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Das Ende ist nah

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Erst da fiel es Calvin auf. Nicht die Tatsache, dass Mike bereits die ganze Zeit wie ein Verrückter nach Alkohol suchte. Im Hinterkopf hegte er schon längere Zeit diesen Verdacht. Schließlich durfte er das Verhalten bei seinem früheren Personal oft genug ansehen. Nein. Was ihm erst jetzt auffiel war der glänzende Gegenstand, der auf der anderen Seite der Tür, an der Wand befestigt, hing. Es war für Calvin sogar in perfekter Griffweite. Eine Axt. Keine lange Klobige, wie man sie für das Fällen von Bäumen verwenden würde, sondern eine Kleine für den einhändigen Gebrauch. Sie musste bereits die ganze Zeit da hängen und Calvin hatte doch tatsächlich versucht Mike mit bloßen Händen zu erwürgen. So ein Fehler wird mir aber unter keinen Umständen wieder passieren!, dachte sich Calvin, wie er erneut einen Blick auf seinen Kontrahenten warf. So schwach und fragil sah Mike aus. Kaum in der Lage sich auf den Beinen zu halten. Wenn er in diesem Moment die Axt schnappen und auf ihn einhacken würde, hätte Mike überhaupt noch eine Chance?
Nun schien eine Chance erneut gekommen zu sein. Seine Ungeduld stand ihm bis jetzt immer im Weg, aber nun war er sich sicher, dass das die perfekte Gelegenheit sein würde. Seinem Kontrahenten fehlte jegliche Kraft und auch, wenn er momentan selbst über keine Herkuleskräfte verfügte, so machte eine Schneide in der Hand diesen Umstand mehr als wett.
Er musste nur einmal die Hand ausstrecken, auf Mike zuschreiten und mit all seiner Kraft die Axt schwingen. Das war sein Schlachtplan. Die einzelnen Schritte hatten sich bereits in sein Gehirn eingebrannt, nun musste er sie nur noch ausführen. Doch er zögerte.
Wieso fühlt sich das so falsch an?, fragte sich Calvin, während er fasziniert die Axt anstarrte. Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wann er zum letzten Mal solche Gewissensbisse durchleben musste, wenn es um das Töten eines Menschen ging. Obwohl er sich da selbst anschwindelte. Im Grunde genommen konnte er sich nur zu gut an das letzte Mal erinnern, damals vor fünfzehn Jahren. Genau wie einst stand er wie gelähmt da, während dieses Gefühl in ihm hochkroch, dass er etwas von Grund auf Falsches machen wollte.
Mach schon, versuchte er sich selbst ein letztes Mal zu überzeugen, Es wird nie wieder so eine gute Situation kommen. Willst du nicht endlich aus dieser Hölle verschwinden?
Doch irgendwo, tief in seinem Innern vergraben, gab es etwas, das sich gegen diese Begründung sträubte. Keine Stimme oder dergleichen - schließlich war er ja nicht verrückt - aber ein Gefühl. Ein Gefühl, das ihn an die letzten Tage erinnerte, wie er sich darüber freute, dass Mike ihm seine eigene Hütte baute und wie er es seinem Wärter hoch anrechnete, dass er ihm endlich wieder größere Portionen zu essen gab. Und zu guter Letzt dachte er an den Tag zurück, als Mikes Fäuste auf ihn eingeprügelt hatten und er sich der Erlösung so nahe fühlte, wenn auch diese spezielle Erinnerung leicht vernebelt war.
Vielleicht ist das meine Chance mich zu revanchieren. Vielleicht kann ich meine Fehler wiedergutmachen, kam es Calvin plötzlich in den Sinn, ohne dass er es verhindern konnte. Nein! Er hatte genug davon, über diese Dinge nachzudenken. Es war zu spät, um die Missetaten seiner Jugend zu bereuen. Und doch zwängte sich dieser unschuldige Gedanke so frech in sein Bewusstsein, dass Calvin wütend wurde. Wieso dachte er nach all dieser Zeit plötzlich wieder an so einen Blödsinn? Warum kam dieses verrückte Gefühl von früher wieder in ihm hoch?
„Ah!“, schrie Calvin, um die Diskussion mit seiner inneren Stimme endlich ruhig zu stellen. Anscheinend war er doch verrückt.
Blind vor Ärger schritt Calvin auf Mike zu und schwang seinen Arm mit voller Kraft. In seiner Hand befand sich jedoch keine Axt. Stattdessen schleuderte er seinem Gegenüber die Rückseite seiner Hand ins Gesicht, dass es Mike erst recht wieder zu Boden schleuderte.
„Genug!“, erhob Calvin erneut seine Stimme, „Schau dich doch nur mal an! Führst dich hier auf, wie ein versiffter Säufer. Jetzt steh endlich auf und beweg deinen Hintern ins Bett.“
„...“
„Nichts zu sagen? Gut so! Kannst von Glück reden, dass nur ich und keiner deiner Freunde dich so sieht, denn meine Meinung von dir kann wenigstens nicht mehr schlechter werden.“

Mike hätte sich niemals träumen lassen, dass Calvin stark genug sein könnte, um ihn irgendwo hinauszuschmeißen. Doch gestern in der Nacht schien genau das geschehen zu sein. Der Kerl hatte ihn doch tatsächlich am Kragen gepackt und hochkant aus der Materialhütte geschmissen. Eigentlich wollte sich Mike darüber ärgern, aber in Wirklichkeit war das Gegenteil der Fall. Er musste ihm sogar dankbar sein. Alleine wäre es ihm unmöglich gewesen aus dieser Trance aufzuwachen. Wobei Trance es nur wage beschrieb. Leichenstarre passte da wohl besser, so wie er letzte Nacht ausgesehen haben muss.
Zum Glück konnte Mike nach diesem Rausschmiss wieder seine Fassung erlangen und das erneut aufwallende Drängen in seine Schranken weisen. Ein solches Ende für diesen Abend hatte er sich allerdings nie träumen lassen. Jetzt schuldete er Calvin doch tatsächlich seinen Dank. Seinen Dank! Unglaublich.
Vielleicht traute er sich deshalb am späten Vormittag noch immer nicht aus seinem Bett, geschweige denn seiner Hütte, hinaus. Wie sollte er sich nur vor Calvin blicken lassen, nach den gestrigen Vorfällen? Je länger er darüber nachdachte, wie ihn vor einigen Stunden noch die Emotionen übermannt und er doch tatsächlich in der Materialhütte nach etwas Fusel gesucht hatte, desto mehr kroch ihm die Schamröte ins Gesicht.
Er selber wusste nicht, wie lange er dieses Kinderspiel noch fortsetzen wollte. Allerdings sollte es bald ein Ende finden, als plötzlich ein Radau begann. Irgendjemand hämmert draußen. Es war keinesfalls laut genug, dass man es als nervig empfand, weshalb Mike es anfangs noch zu ignorieren versuchte, aber über einen längeren Zeitraum störte es dennoch genug, um nicht den ganzen Tag dösen zu können. Damit machte es einen Strich durch Mikes Tagesplanung. Davon abgesehen gebot ihm seine Neugier herauszufinden, was da draußen vor sich ging. Schließlich wusste Mike, dass nur Calvin da draußen hämmern konnte, aber es war ihm unbegreiflich weshalb. Eigentlich fiel ihm nur ein Grund ein, aber das war ein Ding der Unmöglichkeit. Nein, wenn Calvin draußen hämmerte, dann hatte er bestimmt irgendeine schlechte Idee.
„Ich werde da wohl rausgehen müssen.“, murmelte Mike zu sich selbst, als müsste er seinem Körper erklären, was zu machen sei.
Als Mike dann endlich um die Mittagszeit hinaus ins Freie trat, wusste er, dass die Entscheidung, alleine schon wegen der frischen Luft, richtig war. Wie konnte er es nur so lange in dieser stickigen Hütte aushalten? Die ersten Atemzüge ließen ihn glatt vergessen, weshalb er überhaupt aus seinem Versteck gekrochen kam. Doch schon bald hielt er bereits Ausschau nach Calvin. Lange musste er nicht suchen. Calvin, der Calvin der die letzten Tage, nein, die letzten Jahre keinen Finger gerührt hatte, stand schweißgebadet in der prallen Sonne und werkelte an seinem neuen Zuhause. Diesen Schock musste Mike erst einmal verdauen.
 

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Blödes Holz! Blöde Nägel!, fluchte Calvin innerlich vor sich hin. Und verdammte Dreckshände!
Wie lange mochte es wohl her sein, seit er das letzte Mal handwerklich tätig gewesen war? Allerdings hätte die Antwort kaum einen Unterschied gemacht. Langsam musste seine Hütte einfach fertig werde. Sie befanden sich schließlich schon im Spätsommer und auch wenn die Gegend mehr für ihre Hitze, als für ihre kalten Winter bekannt war, so konnte es gerade in der Nacht und mit ein wenig Wind ziemlich frostig werden. So frostig, dass man als intelligenter Mensch keinesfalls im Freien schlafen wollte.
Momentan machte Calvin nämlich genau das. Besser als wie ein Tier im Stall zu schlafen, redete er sich jedes Mal selber ein, wenn ihn unweigerlich fror. Doch diese Nacht war einfach zu viel! Er wusste nicht, wie viel Grad es wirklich hatte, aber es genügte, um kein Auge mehr zu zu bekommen. Als dann auch noch die kühle Nachtluft unter seine Decke gefahren kam, konnte von Schlaf keine Rede mehr sein.
So kam es, dass Calvin beschloss beim Bau seiner Hütte mitzuhelfen, nachdem bis jetzt nur Mike an diesem Projekt gewerkelt hatte. Dabei hatte er bereits mehr als einmal mit dem Gedanken gespielt mit anzupacken, aber was hätte er schon machen sollen? Er befand sich schließlich noch immer in einer Erholungsphase. Da konnte sein Geist noch so motiviert sein, ohne einen gesunden Körper, wäre es keine kluge Idee gewesen. Allerdings hatte er in dieser Nacht eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass seine Kräfte wieder zurückkehrten. Wie sonst wäre es ihm möglich gewesen, Mike eigenhändig aus der Materialhütte zu werfen?
Nun arbeitete er also an Mikes Werk weiter. Leider musste er schnell feststellen, dass er bereits früher hätte mithelfen sollen. Noch vor einigen Tagen wollte er sich über Mike lustig machen, wie ihn seine Bauernherkunft perfekt für ein solches Projekt machte. Zum Glück war es ihm gelungen seinen Mund zu halten, denn damit hätte er jedem ehrlichen Farmer Unrecht getan. Niemals im Leben würde jemand sagen, dass dies die Arbeit eines Bauern sein könnte. Eines Menschen, der wusste, wie er mit seinen Händen etwas bewerkstelligte. Womöglich wäre es als das Projekt eines Bankers, eines Beamten oder gar eines Adeligen, aus der alten Welt, durchgegangen, aber kaum als das, von jemandem mit handwerklicher Begabung.
„Wieso hat er die Unebenheiten des Bodens nicht ausgeglichen?“ war die erste von vielen Fragen, die sich Calvin aufzwangen. Bald folgten „Weshalb hat er die Dielen nicht zurecht gesägt, damit sie die selbe Länge besitzen?“ oder „Was zum Teufel hat er sich dabei gedacht, als er die Hütte länger machte, als die längsten Bretter die wir besitzen?“
Manche Probleme, denen er im Laufe des Tages begegnete, bedurften zum Glück nur ein wenig Arbeit. Leider gab es auch genug, mit denen sich Calvin einfach abfinden musste, wenn er nicht den ganzen Bau abreißen wollte. Zugegeben, er spielte während der ersten Stunden mit dem Gedanken, doch am Ende entschied er sich dagegen. Schließlich gab es auch so noch genügend zu tun. Er musste sich wohl oder übel mit bereits begangenen Fehlern abfinden.
Gerade deshalb gab er in den nächsten Stunden sein Bestes. Die Zeit verflog regelrecht, aber mit ihr schwanden auch Calvins noch immer kümmerliche Kraftreserven. Lange würde sein noch immer geschwächter Körper nicht mehr mitmachen, aber jedes Mal, wenn die Müdigkeit ihn übermannen wollte, trieb er sich an, nur noch etwas mehr zu tun. Noch einen weiteren Nagel oder ein weiteres Brett und so arbeitete er trotz seiner Erschöpfung unbeirrt weiter. Welch Ironie, dass gerade er sich in dieser Situation die Unterstützung von Mike erhoffte. Doch mit jeder Stunde die verging rechnete er weniger damit, dass er ihn heute noch zu Gesicht bekommen würde. Calvin konnte es ihm ja nicht einmal übel nehmen.
Das war es, was ihn richtig verblüffte. Ihm schien es völlig legitim, dass man nach so einer Nacht, so einem Absturz, am nächsten Tag keine Energie aufbringen könnte. Dabei wollte er sauer sein. Sauer darauf, dass Mike zuerst so schlechte Arbeit geleistet hatte und er jetzt alleine daran arbeitete diese aufzubessern. Doch stattdessen war er wütend auf sich selbst, weil er keinen Groll gegen seinen Wärter hegen konnte. Diesen Ärger trug er Stunden mit sich herum, auch als Mike zur Mittagszeit endlich aus seiner Hütte gekrochen kam.
„Und? Gut geschlafen?“, fragte er ihn, ehe er überhaupt begriff, wie falsch es sich anhörte, wie die Worte aus seinem Mund kamen. So etwas würde er doch normalerweise nie sagen. Ah, es war zum Haare ausreißen! Wer gab sich hier nur als Calvin aus? Selbst auf einen höhnischen oder beleidigenden Unterton verzichtete er. Es handelte sich um eine normale, aufrichtige Frage. Calvin verstand nur zu gut, wieso Mike dermaßen misstrauisch zu ihm hinüberblickte. Er hätte wohl genau dasselbe getan.
„Schlecht. Das solltest du wissen.“, entgegnete Mike. Auch wenn seine Worte Zwiespalt sähen sollten, erkannte Calvin sofort, dass sein Gegenüber in Wirklichkeit keinen Streit anfangen wollte. Es ging eher darum, die „Wassertemperatur zu testen“. So wie ein Kind seine Zehe ins kalte Wasser hielt, um kreischend zu erkennen, dass es doch noch zu kalt war, warf Mike ihm etwas an den Kopf, um zu erfahren, was er tatsächlich vorhatte.
Und an guten Ideen für einen Konter mangelte es Calvin keineswegs. Mir hilft eine Whiskey immer gut beim Aufwachen. Immer dasselbe mit den Säufer! oder Stell dich nicht so an, meine Hand tut mir auch noch immer weh, waren nur die ersten Einfälle, die ihm durch den Kopf schwirrten. Letztendlich kam aus seinem Mund allerdings etwas ganz anderes:
„Hm. Nach so einer Nacht würde ich auch schlecht schlafen. Wenigstens hast du jetzt wieder etwas Farbe im Gesicht.“
„Ja, muss ziemlich schlimm ausgesehen haben.“
Der spitze Tonfall war plötzlich aus Mikes Stimme verschwunden und auch, wenn die Skepsis noch immer in seinen Augen verweilte, gab er Calvin eine normale Antwort. Im Grunde genommen, fing so ihr erstes richtiges Gespräch an.
„Kann man wohl sagen. Hoffen wir also, dass es bei dem einen Mal bleibt.“
Was?, schrie Calvin innerlich. Das ist doch genau das, was ich will! Eine Chance ihn endlich unschädlich zu machen!
Er war ihm unbegreiflich, was mit ihm schief lief. Nicht nur das jetzige Gespräch verwirrte ihn, sondern auch die gestrige Nacht, als er sich geweigert hatte, Mikes schwachen Moment auszunützen. Die Axt hatte er doch gleich neben sich! Aber im entscheidenden Moment hielt ihn etwas zurück. Etwas, das ganz genau wusste, dass es falsch gewesen wäre.
„Scheinst schon ordentlich Arbeit geleistet zu haben.“, riss Mike ihn mit einem Themenwechsel aus seinen Gedanken. Erneut bot sich Calvin eine passende Gelegenheit, um Mike einen auszuwischen. Schließlich gab es genug bei dem Bauprojekt, über das er sich lächerlich machen könnte. Zu diesem Zeitpunkt wusste er jedoch, dass es nicht dazu kommen würde.
„Puh. Ich muss dann auch mal eine Pause machen. Hab mich noch immer nicht ganz vom ersten Tag erholt.“
„Äh, ja.“, stammelte Mike leicht verlegen, „Dann ruhe dich mal etwas aus. Kann ja in der Zwischenzeit weiter machen. Ein wenig Morgensport sollte mir ohnehin ganz gut tun.“
 

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Man mochte kaum glauben, wie sich nach dieser Nacht der Tagesablauf der nächsten Tage änderte. Auch wenn sich Calvin und Mike noch immer skeptisch gegenüberstanden, konnte man endlich von einem Zusammenleben sprechen. Die beiden arbeiteten gemeinsam an Calvins Hütte und mit vereinten Kräften schafften sie das scheinbar Unmögliche. Sie stellten den Bau fertig. Dabei lagen sie sogar ganz gut in der Zeit. Sie brauchten kaum mehr als das Doppelte der Zeit, in der es zwei handwerklich begabte Personen bewerkstelligt hätten. Dafür freuten sie sich aber auch zweimal so viel über diesen Sieg. Zur Feier des Tages sollte es sogar doppelte Portionen beim Abendessen geben. Das Mike kurze Zeit später keinen Appetit mehr haben würde, konnte er da natürlich noch nicht wissen.
Der Feierabend begann wie immer recht gemütlich. Die beiden bereiteten zusammen das Essen vor und unterhielten sich nebenbei. Man wollte es kaum glauben, aber es entsprach der Wahrheit. Über den Verlauf der letzten Tagen fingen die beiden tatsächlich an Gespräche miteinander zu führen. Man konnte es vielleicht noch kein richtigen Dialog nennen, aber hier und da wechselten sie ein paar Zeilen. Das hatte alles damit begonnen, dass die beiden während der Arbeit anfingen ihrem Ärger laut Luft zu machen. Nichts ließ einen besser Sympathien austauschen, als wenn jemand seinen Daumen mit einem Hammer zerquetschte oder sich beinahe eine Zehe brach, weil ihm ein schweres Brett mit der Kante voran drauf fiel. Bald sollten diesen Wutausbrüchen kurze Anekdoten folgen, wie man sich bereits zuvor in einer solchen Situation befand und ehe man sich versah, erzählten sich die beiden Geschichten aus ihrem früheren Leben. Aus den Zeiten, bevor sie sich ein zweites Mal kennenlernen durften.
Erst nach und nach begann Mike zu verstehen, wie Calvin überhaupt zu seiner Position, als Boss einer Untergrundorganisation, gekommen war. Eine Frage, die er sich früher nie gestellt hatte. Das glich er nun aus, indem er umso aufmerksamer zuhörte, wenn Calvin mehr über seine Vergangenheit preisgab.
Dieses Mal handelte es sich um eine längere Geschichte als sonst. Mike wusste nur, dass er sich gerade noch beschwert hatte, dass seine Hände machten, was sie wollten, anstatt das, was er sich eigentlich vorstellte, wenn es um das Einschlagen eines Nagels ging. Im nächsten Moment begann Calvin bereits mit einer ziemlich langen Erzählung. Es ging darum, wie auch er dieses Gefühl kannte, als er einst eine wehrlose Frau bei einem Banküberfall erschießen sollte. Sein Körper hatte sich ihm damals ebenfalls widersetzt.
Die Geschichte dauerte so lange, dass sie bereits vor ihren gefüllten Tellern saßen, ehe Calvin zu einem Schluss kam. Doch dann war es endlich soweit. Das Festmahl zur Fertigstellung von Calvins neuer Bleibe konnte beginnen. Wenigstens dachte Mike das, ehe Calvin ein weiteres Mal seinen Mund öffnete.
„Also...“, begann Calvin, sein Blick starr auf Mike gerichtet, „Die ganzen Hütten sind ja ganz nett, aber mal ganz im Ernst: Soll das etwa alles sein?“
Was soll denn das bedeuten?, wollte Mike bereits aufbrausen. Der alte Außenposten, in seiner ganzen Pracht, mochte der Vergangenheit angehören, aber Mike hatte zu lange an diesem Fleck Erde verbracht, um ihn jetzt beleidigen zu lassen. Er verband mit diesem Ort beinahe väterliche Gefühle. Dennoch hielt er sich vorerst zurück. Vielleicht hatte er es ja falsch verstanden. Wenigstens hoffte er es, denn er weigerte sich zu glauben, dass Calvin nach den letzten Tagen wieder mit seinen Sticheleien anfangen würde. Womöglich war es tatsächlich nur ein Missverständnis. Eine schlechte Wortwahl.
„Was meinst du damit?“, war die neutrale Gegenfrage, auf die sich Mike festlegte.
„Ich freue mich irrsinnig, endlich nicht mehr draußen schlafen zu müssen, aber...“, versuchte Calvin nun vorsichtiger zu formulieren. Man sah ihm jedoch an, dass er es nach einigen Sekunden des Überlegens wieder aufgab, „Ach, komm schon. Ein Mann kann sich doch nicht nur mit einem Dach über dem Kopf zufriedengeben. Es braucht mehr im Leben. Ich rede ja nicht unbedingt von Lastern, auch wenn ein paar davon ganz nett wären, mir geht es um unsere Grundversorgung. “
„Also... Willst du mir sagen, dass du mal wieder eine Frau brauchst?“
„Nein! Mein Gott! Muss ich es etwa wirklich erklären?! Was willst du denn essen, wenn wir erst mal die Überreste des Pferdes zusammen gefressen haben? Was machen wir, wenn uns die Nägel ausgehen oder uns Werkzeug kaputt geht? Wo bekommen wir Geld her, um etwas zu kaufen? Brauchst du dafür zufällig auch ein Beispiel? Wie wäre es mit Munition. Hast du dir schon einmal überlegt, wie du dir Munition leisten willst, wenn du hier absolut kein Geld machst? Komm schon, Mike, hast du dir über diese Sachen noch nie Gedanken gemacht?“
Oh doch. Mehr als du dir vorstellen kannst, wollte Mike bereits kontern. Seit dem Tag, an dem er sich dafür entschieden hatte Calvin aufzunehmen, war kein Abend vergangen an dem er sich keine Sorgen über die Zukunft machte. Mit den Fragen traf Calvin ins Schwarze, auch wenn er mit der allgemeinen Sorge um Geld falsch lag. Eben jene stellte er sich auch selbst und wie auch schon in den letzten Woche, wusste er in diesem Moment keine Antwort darauf.
Doch es gab eine unbequeme Wahrheit, die Mike bereits kannte: Calvin machte alles kaputt. Der Außenposten mochte früher als Ersatzgefängnis geeignet gewesen sein, aber diese Zeiten waren lange vorbei. Nun konnte man nur überleben, wenn man gelegentlich Ausritte unternahm, egal ob es um die Jagd, Handel oder einfach darum ging der Einöde zu entrinnen. Doch all das blieb ein Ding der Unmöglichkeit, denn dank Calvin saß er hier fest. Seine Hauptaufgabe bestand darin den einstigen Verbrecher im Auge zu behalten und auf ewig von der Gesellschaft fernzuhalten. Obwohl Mike dabei der Wächter sein sollte, hielt ihn dieser Umstand genauso gefangen wie Calvin selbst.
Wie lange kann das gut gehen?, musste sich Mike selbst fragen. Wie sollte eine ausweglose Situation wie diese enden? Die Antwort darauf gefiel ihm jedoch noch weniger als die Frage selbst, denn es gab nur einen Ausweg aus diesem Dilemma. Calvin musste verschwinden. Da das allerdings nicht zur Debatte stand, blieb ihm keine andere Möglichkeit als auszuharren und auf das Beste zu hoffen.
So tief in Gedanken versunken, verlor Mike jegliches Zeitgefühl und musste sich bald wundern, wie lange bereits die Pause zwischen Calvin und ihm dauerte. Auf jeden Fall lange genug, um die Situation mehr als peinlich zu machen. Doch das war ihm gerade herzlich egal. Er wusste lediglich, dass ihm der Appetit vergangen war, zusammen mit dem Bedürfnis nach Gesellschaft.
„Ich bin heute ziemlich müde. Werde mich dann schon in die Federn hauen.“, schob Mike als Ausrede vor, während er sich vom Lagerfeuer erhob. Wenigstens der Teil mit der Müdigkeit stimmt, fügte er in Gedanken hinzu.
„Ach, komm schon. Willst du mich hier wirklich ohne Antwort sitzen lassen?“
Ja!, wollte Mike bereits verkünden, doch am Ende schritt er stillschweigend von dannen. Ihm war bewusst, wie Calvins perplexer Blick die ganze Zeit auf ihm lastete, bis er endlich in seine Hütte flüchten konnte. Allerdings kümmerte ihn das nur wenig, denn es war noch immer eine bessere Option, als einfach mit der Wahrheit rauszurücken. Sollte Mike etwa zugeben, dass er hier im Außenposten nur glücklich werden konnte, wenn Calvin unter der Erde liegen würde?
 
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Und einmal mehr ließ Mike ihn alleine zurück. Langsam schien das zu einer Gewohnheit zu werden. Aber Calvin wollte sich nicht beklagen. Wenigstens erlaubte ihm das, sich wieder eine zweite Portion zu genehmigen oder besser gesagt eine dritte und vierte, da sie zu Feier des Tages, den Abend mit einem ausgiebigen Essen abschließen wollten. Trotz dieses Festmahls befiel ihn jedoch eine merkwürdig bedrückte Stimmung.
Er hatte bereits geahnt, dass ihm Mike all diese Fragen wohl kaum beantworten konnte, aber dass sie ihn gleich in Flucht schlugen beunruhigte Calvin. Schließlich saßen sie im selben Boot, seit auch er den Außenposten sein Zuhause nannte. Diese Probleme betrafen ihn im selben Maße. Momentan hatte er jedoch größere Probleme zu kämpfen, als er sich beinahe an seinem Löffel verschluckte. Dabei war nicht einmal seine Gier nach Essen daran Schuld, sondern die Realisation seiner Gedanken. Hatte er etwa gerade dieses Drecksloch als sein Zuhause bezeichnet?
Wann zum Teufel ist denn das passiert?, musste sich Calvin wundern. Vor zwei Wochen wollte er noch flüchten, ja, Mike sogar mit bloßen Händen erwürgen, um endlich wegzukommen. Und jetzt nannte er diese Absteige bereits sein Zuhause? Er konnte sich doch unmöglich damit abgefunden haben, dass er den Rest seines Lebens hier verbringen sollte.
Nur langsam realisierte er, dass der Drang von hier wegzukommen noch immer existierte. Allerdings wollte er nicht wie ein beliebiger Insasse flüchten. Kein Morden und erst recht keine Verfolger sollten mehr in seinem Leben vorkommen. Wenn er diesen Fleck Erde verlassen würde, dann als freier Mann, ohne jemanden, der sich ihm in den Weg stellte.
Also spiele ich mit, beschloss Calvin, wie er sich über Mikes Portion her machte. Niemals im Leben würde er an einem solchen Ort sein Glück finden, aber im Moment musste er sich damit abfinden und auf das Beste hoffen.
Alleine der Gedanke an dieses Ziel hob Calvins Stimmung. Es sollte der Tag kommen, an dem er wieder seine Freiheit erlangte und das ohne schmutzige Tricks. Mit diesem guten Gefühl im Magen, aß er die restliche Portion auf, löschte das Feuer aus und legte sich schlafen. Selbst seine Albträume ließen ihn in dieser Nacht in Ruhe. Alles dank des Ziels vor seinen Augen.
Erst in den frühen Morgenstunden durfte Calvin erfahren, wie fragil dieses Glücksgefühl doch war. Das laute Klopfen an seiner Tür fegte es einfach davon. So verhielt es sich nun mal mit den Glücksgefühlen. Es reichte einmal viel zu früh geweckt zu werden, um auf den Boden der Tatsachen zurückzukommen. Und früh war es. Das wusste Calvin, selbst ohne ein Fenster, durch welches er nach draußen hätte blicken können. Allerdings spürte Calvin, wie die Müdigkeit noch in jedem einzelnen seiner Knochen steckte. Doch das Klopfen, unbarmherzig wie es war, kümmerte sich in keinster Weise um seine Probleme.
„Komm schon raus, Calvin. Ich weiß, es ist früh, aber wir haben wieder viel zu tun.“, rief von draußen eine nur allzu familiäre Stimme. Das beruhigte Calvin zumindest ein wenig. Sein verschlafenes Gehirn hatte sich bereits einige verrückte Szenarien ausgemalt, was da draußen vor sich gehen könnte. Dass Mike dabei der Unruhestifter war, ließ zumindest seine schlimmsten Befürchtungen vom Winde verwehen. So konnte beispielsweise kein rachsüchtiger Haufen vor der Tür stehen, der ihm ans Leder wollte. Eine Angst, die ihn bereits seit den letzten Jahren begleitete.
Es war dennoch höchst ungewöhnlich, dass Mike zu solch einer frühen Stunde bereits auf zu sein schien und vor seiner Tür zu stand. Wie Calvin aus seinem Bett kroch, spürte er, dass etwas vor sich ging. Er konnte nicht genau mit dem Finger darauf zeigen, aber er wusste, dass etwas bevorstand, das ihm wohl kaum gefallen würde.
Müde, wie Calvin nun einmal war, dauerte es seine Zeit, bis er sich aufgerichtet hatte und endlich vor der Tür stand. Die ganze Zeit über hörten weder das Klopfen noch Mikes Zwischenrufe auf. Erst als er verärgert die Tür aufriss und in das Gesicht des Teufels sah, kehrte endlich wieder Ruhe ein. Dennoch schaffte es Mike ihm weiterhin auf die Nerven zu gehen. Das lag vor allem daran, dass Calvin beinahe geblendet wurde, so wie sein Gegenüber in diesen frühen Morgenstunden vor Energie strahlte. Dabei schien es sogar noch früher zu sein, als er anfangs vermutet hatte. Es herrschte noch tiefe Finsternis und auch, wenn man bereits sehen konnte, dass es im Osten etwas heller wurde, so ließ sich doch noch keine Lichtstrahl blicken.
„Kannst du mir verraten, was zum Teufel das soll? Wieso weckst du mich um diese Uhrzeit?“, brummte Calvin mit seiner rauen Morgenstimme.
„Ich will beim ersten Licht zu arbeiten beginnen.“
„Ist dir schon aufgefallen, dass es noch dunkel ist?“
„Ja, aber so haben wir noch etwas Zeit zum Frühstücken.“
„Moment!“, warf Calvin ein. Was hatte Mike gerade eben gesagt? Er wollte so früh wie möglich zu arbeiten beginnen?
„Wovon redest du überhaupt? Wir haben gerade nichts zu tun. Meine Hütte ist fertig, schon vergessen?“
„Natürlich nicht. Allerdings hab ich gestern noch etwas Zeit gehabt, um mir Gedanken über den Außenposten zu machen.“
„Kein Wunder. Hast mich gestern auch früh genug sitzen lassen.“
„Hm. Ja, dafür muss ich mich entschuldigen. Hast mich auf dem falschen Fuß erwischt.“
„Na gut. Und? Was ist dabei herausgekommen?“
„Bei was?“
„Na, du hast dir doch Gedanken zum Außenposten gemacht.“
„Ach ja. Also ich lag gestern in meinem Bett und habe mir gedacht, dass das alles hier nichts mehr mit dem früheren Außenposten zu tun hat.“
„Und dafür hast du mich so früh geweckt?“
„Nein, es geht ja noch weiter. Ich bin also eine Zeit lang in alten Erinnerungen geschwelgt, bis mir dann endlich ein Einfall kam. Vielleicht gibt es den alten Außenposten nicht mehr, aber man könnte doch versuchen ihn Stück für Stück wieder aufzubauen.“
„Aha. Und wie hast du dir das vorgestellt? Wir haben eben so einen einfache Holzschuppen hinbekommen.“
„Ach. Mit der Zeit werden wir schon besser werden.“
„Und womit willst du überhaupt anfangen? Sollen wir einfach mal die ganzen Bäume in der Gegend fällen und eine Palisade bauen? Oh, das hab ich ja ganz vergessen. Hier gibt es ja gar keine.“
„Wir müssen ja nicht gleich mit einer Palisade beginnen, aber ein Zaun wäre ganz nett.“
„Das ist also wirklich dein Ernst?“
„Ja. Ich habe mir überlegt, dass wir das Gelände von da“ - Mike zeigte dabei auf einen imaginären Punkt etwas westlich des Teiches, ehe er seinen Arm schwenkte und östlich der Materialhütte deutete - „bis dorthin einzäunen werden.“
„Na dann wünsche ich dir noch viel Spaß. Ich lege mich wieder hin.“
„Moment! Du sollst mir dabei helfen.“
„Und weshalb?
„Weil ich vielleicht keine Lust habe, die ganze Arbeit alleine zu machen.“
„Nein. Ich meine, wieso soll ich meine Kräfte für etwas einsetzen, das wir sowieso nicht brauchen. Was bringt uns bitte ein Zaun mitten in der Einöde?“
„Na gut. Ich verstehe deine Bedenken. Ein Zaun mag in dieser Gegend keinen praktischen Nutzen haben, aber einen symbolischen Wert besitzt er dennoch. Jeder dahergelaufene Vagabund kann sich irgendwo eine Hütte bauen, aber erst mit einem Zaun zeigt man, dass einem das Land auch wirklich gehört. Oder hast du schon einmal ein richtiges Anwesen ohne eine Art Abgrenzung gesehen?“
Lag es womöglich an seinem schlaftrunkenen Gehirn oder an der Tatsache, dass er für seine eigene Villa wochenlang fanatisch die richtige Art von Zaun gesucht hatte, stets bemüht das richtige Zusammenspiel aus Eleganz und Abschreckung zu finden? Egal was es nun war, die ganze Sache schien für Calvin langsam Sinn zu ergeben. Ein Umstand, der ihn an seiner eigenen Zurechnungsfähigkeit zweifeln ließ. Immerhin handelte es sich hier um die Idee für einen Zaun, die keine Person außer den beiden, jemals zu Gesicht bekommen würde.
„Gehen wir einmal davon aus, dass ich diese Idee nicht für komplett sinnlos halte. Haben wir überhaupt genug Holz für einen solchen Zaun? Und wie schaut es mit Nägeln aus?“
„Ich muss zugeben, es wird ziemlich an unseren Vorräten nagen. Aber solange wir ihn nicht zu groß machen sollte es sich ausgehen. Im Nachhinein kann man ja immer noch ausbauen.“
 

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Der Bau eines Zaunes besaß einen großen Vorteil. Er war um einiges einfacher zu bewerkstelligen, als der einer Hütte. Das merkte Mike bereits, als er nach dem ersten Tag ihre Fortschritte betrachtete. Sie würden zwar noch einige Tage brauchen, bis sie auch dieses Projekt vollendet hätten, aber mit etwas Glück sollte es sogar weniger Zeit in Anspruch nehmen, als Calvins Heim.
Er musste allerdings zugeben, dass dies vor allem Calvins Verdienst war. Der einstige Verbrecher konnte, für seinen früheren Lebensstil, erstaunlich gut mit Werkzeug umgehen oder wenigstens bildete sich Mike das ein, wenn er sich selbst mit Calvin verglich. Welch ein Glück also, dass es so leicht war ihn zur Mithilfe zu bewegen.
Ja, ohne Calvin würde die Aufgabe um einiges langsamer erledigt werden. Dabei setzte er sich körperlich dermaßen ein, wie es Mike früher kaum für möglich gehalten hätte. Dieser einst reiche Schnösel gab wirklich sein Bestes. Gerade deswegen plagten Mike umso stärkere Schuldgefühle. Er sah wie sehr Calvin schuftete und wie er ihn auf Fehler hinwies, die ihm selber niemals aufgefallen wären. Nur durch Calvin blieb sein Traum, von einem wieder stolzen Außenposten, am Leben. Doch trotz all dieser Hilfe kam er kein einziges Mal in Mikes Zukunftsplanung vor. Für ihn gab es in der Zukunft nur den Außenposten und sich selbst. Alleine. Für Calvin war einfach keinen Platz.
Mike wusste nicht, wie es passieren sollte, aber er war sich sicher, dass es so kommen würde. Es lag im fern, selber Hand an Calvin anzulegen. Die eine Kugel, die für Calvin bestimmt war, aber stattdessen dessen Pferd getroffen hatte, sollte auch weiterhin die Einzige bleiben, mit der Mike seinen Gefährten verletzen wollte. Dennoch glaubte Mike daran, dass seinem Mitbewohner etwas passieren würde. Vielleicht würde er sich eines Nachts doch hinausschleichen und irgendwo in der Einöde zu Grunde gehen.
Genau das waren die Gedanken, weshalb Mike von solchen Schuldgefühlen geplagt wurde. Welcher anständiger Mensch dachte schon über solche Dinge nach, ja, hoffte sogar darauf? Auch da konnte er von Glück reden, dass sie mit dem Bau des Zaunes angefangen hatten, denn nichts ließ Mike besser unerwünschte Gedanken verdrängen, als harte Arbeit. Und tatsächlich setzte er sich nicht mit der Angelegenheit auseinander, solange er seine Hände fleißig beschäftigt hielt. Dass seine Tage dadurch zu einem eintönigen Ablauf verkamen, der nur noch aus arbeiten, essen und schlafen bestand, nahm er kaum zur Kenntnis.
In den nächsten vier Tagen erlebte Mike absolut keine Ereignisse, die ihn aus diesem Alltagstrott hätten hinaus reißen können. Am fünften Tag merkte Mike jedoch schon in der Früh, dass etwas nicht stimmte. Wie er die Augen aufschlug, bildete er sich ein, dass jemand neben ihm stand und ihn rüttelte. Nur auf diese Weise konnte er sich erklären, wieso sein ganzer Körper keine Sekunde mehr ruhig bleiben zu können schien. Dabei war er weder erschöpft noch war ihm kalt. Er zitterte einfach ohne einen triftigen Grund. Besonders seine Hände wollten nicht still halten.
Anfangs begriff Mike nicht, was mit ihm vor sich ging, bis er auf seinen Herzschlag achtete. Er erkannte sofort dieses Gefühl. Einmal mehr wollte ihm das Herz aus seiner Brust springen, genau wie damals in der Materialhütte. Damit begriff Mike, dass sein Körper einmal mehr einen Aufstand gegen den Alkoholentzug machte. Allerdings wunderte er sich, wieso die Stimme ihm nicht wieder verführerisch in sein Ohr flüsterte. Er verspürte keinerlei Verlangen nach Alkohol und doch wehrte sich sein Körper.
Wie seine unerwünschten Gedanken versuchte er auch seinen Körper mit Arbeit abzulenken. Am Ende sollte sich jedoch leider herausstellen, dass physische Tätigkeiten womöglich für einen leeren Kopf sorgten, aber gegen ein unkontrollierbares Zittern in keinster Weise halfen.
Der Hitze nach zu schließen war es früher Nachmittag, als Mike den Versuch endgültig aufgab. Nichts konnte seine Hände ruhig halten. Er hatte es mit Arbeit versucht und dann mit harter Arbeit. Am Schluss probierte er sogar mit noch härtere Arbeit, nur um sich nun völlig entkräftet ausruhen zu müssen, während sein Körper noch immer vor sich hin zitterte. Der Schweiß rann ihm nicht nur in Strömen von der Stirn, seine ganze Garderobe war bereits durchnässt. In solchen Situationen verfluchte er die hiesige Gegend. Man konnte sich normalerweise immer darauf verlassen, dass einem der Wind Dreck und Staub ins Gesicht wehte, doch wenn man tatsächlich einmal ein kühles Lüftchen benötigte, wenn man sich über den kleinsten Windhauch freuen würde, herrschte komplette Windstille.
Da er daran nichts ändern konnte, versuchte Mike das Beste aus der Situation zu machen und suchte im Schatten der Materialhütte Zuflucht, um sich etwas auszuruhen. Mike wollte diese Pause wirklich so kurz wie möglich halten, nur bis er keine Gefahr mehr lief, einen Hitzschlag zu erleiden, denn ansonsten würden ja wieder die unangenehmen Gedanken zurückkehren. Es war an dieser Stelle, dass Mike gelangweilt die Umgebung musterte, als er Zeuge eines kleinen Wunders wurde.
„Calvin!“, versuchte Mike mit gedämpfter Stimme auf sich aufmerksam zu machen. „Komm schnell her, aber sei ja leise.“
Leicht irritiert, aber dennoch der Anweisung folgend, näherte sich Calvin leichtfüßig Mikes Position. Anfangs blieb sein misstrauischer Blick auf Mike gerichtet, doch noch bevor er ihn erreichte, schien auch er den Grund für die Flüsterstimme zu erspähen.
Jeder, der diese Gegend kannte, konnte mit Gewissheit sagen, dass etwaiges Jagen eine reine Zeitverschwendung war, solange sich nicht ein paar Büffel in diese Einöde verirrten. Es lebte hier nichts von Interesse. Womöglich gelang es einem, mit etwas Glück, Kleintiere zu erlegen, aber große Beute suchte man vergebens. Schuh, Mikes treuer Kojote, war mit Abstand das größte Tier, das dauerhaft in dieser Gegend lebte. Selbst dieser schien sich mit dem Beutemangel abgefunden zu haben und vertilgte lieber Tomaten als ein köstliches Steak. Mike hatte sich deswegen schon immer Sorgen gemacht. Sein kleiner Begleiter mochte auf diese Weise überleben, doch seinem Körper sah man an, dass er sich fast ausschließlich vegetarisch ernährte. Allerdings konnte Mike nicht sagen, wie es momentan um seinen tierischen Freund bestellt war. Seit Calvin mit ihm im Außenposten wohnte, traute sich das scheue Tier nicht mehr in die Nähe des Außenpostens. Ab und zu gelang es Mike die Umrisse des Kojoten in der Ferne zu erkennen, doch mehr ließ das Tier nicht von sich blicken.
In dieser Situation mochte das sogar von Vorteil sein. Vielleicht hätte er sonst noch die einsame Beute verschreckt, die keine zwanzig Meter von ihnen entfernt stand und skeptisch an einem verdorrten Grasbüschel knabberte.
„Ein prächtiges Tier.“, raunte Calvin, als er endlich neben Mike stand. „Aber ziehen Gabelböcke nicht normalerweise in Herden herum?“
„Nicht die älteren Männchen. Die triffst du oft als Einzelgänger an.“
„Würde auf jeden Fall ein gutes Abendessen abgeben. Mir steht das ganze Trockenfleisch schon bis hier.“
„Mir auch.“
„Mike?“
„Ja?“
„Worauf wartest du noch? Näher wird der wohl nicht mehr kommen.“
Calvin deutete unmissverständlich auf Mikes Gewehr, das er grundsätzlich immer bei sich trug. Wenigstens tat er es seit dem Tag, als Calvin beinahe geflohen wäre. Zugegeben, er wollte Calvin nicht aus dem Weg räumen, aber falls so etwas wieder passieren würde, musste er vorbereitet sein. Denn über all seinen Bedenken, all seinen Vorsätzen, stand noch immer das Versprechen, das er seinen Freunden gegeben hatte. Calvin würde diesen Außenposten nicht ohne ihn verlassen!
Jetzt schien sich diese Vorsicht endlich auszuzahlen und doch konnte gerade Mike nichts unternehmen.
„Ich kann nicht.“, gab Mike kleinlaut zu.
 

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„Was?!“
„Leise! Sonst verscheuchst du es noch!“
„Wieso zum Teufel kannst du nicht?“
„Schau doch!“, fuhr Mike sein Gegenüber an und streckte ihm seine Hände entgegen, „Wie soll ich bitte schießen, wenn ich so zittere?“
„Warum zitterst du überhaupt so?“
„Hat vielleicht was mit dem Entzug zu tun. Was weiß ich.“
„Dann lass eben mich schießen. Ich bin ein guter Schütze.“
Calvin ein guter Schütze? Mike wollte das nicht so recht glauben, nachdem er bereits die Kampfkünste seines Gegenübers erleben durfte. Allerdings musste er zugeben, dass er ihn noch nie beim Schießen beobachtet hatte. Es gab jedoch einen anderen Grund, weshalb er zögerte.
Die letzten Tage mit Calvin konnte man unmöglich mit dem brisanten Auftakt am ersten Tag vergleichen. Es schien, als hätte sich der einstige Verbrecherboss endlich damit abgefunden, dass er von nun an hier leben würde. Doch durfte sich Mike da noch so sicher sein, wenn er Calvin erst einmal eine Waffe in die Hand drückte? Noch dazu, wenn er ein selbst proklamierter Schützenkönig war.
Mike zweifelte daran. Deshalb rührte er kein Glied, wie ihm Calvin auffordernd die Hand entgegenstreckte. Es brauchte nicht lange, bis dieser die Geste verstand.
„Puh. Das tut jetzt echt weh.“, spielte er falsche Traurigkeit.
„Beschwere dich nicht bei mir. Du warst es doch, der mich umbringen wollte. Schon vergessen?“
„Das liegt doch schon eine Ewigkeit zurück.“
„Es war vor ein wenig mehr als zwei Wochen!“
„Psst! Oder willst du das Tier noch davonjagen?“
„Was soll's? Ich kann nicht schießen und du wirst auch nicht.“
„Wieso nicht?“
„Wie bereits gesagt: Du hast mich versucht umzubringen.“
„Hör doch auf! Hätte ich das immer noch vor, dann wärst du schon längst von ein paar Geiern gefressen worden.“
„Pah! Dass ich nicht lache. Hat beim letzten Mal ja so gut funktioniert.“
„Oh, hast du eine Ahnung! In der Zwischenzeit hätte ich es geschafft.“
„Und wie? Hättest du mich mit einem Löffel erschlagen?“
„Sehr lustig, aber nein. In deinem Kopf würde eine verfluchte Axt stecken. Das wäre passiert!“
„Und wie wolltest du das anstellen? Hm? Ich verbarrikadiere in der Zwischenzeit meine Hütte in der Nacht.“
„Na und? Damals warst du sowieso im Schuppen, wo wir das Material lagern.“
„Huh?“
„Ah. Also hast du das überhaupt nicht mitbekommen.“
„Was denn?“
„Ist dir schon einmal aufgefallen, wo deine süße Handaxt hängt?“
„Irgendwo da drinnen, nehme ich an.“
„Ja, um genau zu sein, gleich neben der Tür.“
„Kommst du vielleicht zum Punkt?“
„Was glaubst du, wie lange ich wohl gebraucht hätte, um diese Axt zu schnappen und dir den Kopf zu spalten?“
„...“
„Auf einmal still? Scheinst wohl endlich zu begreifen, dass du schon längst tot wärst, wenn ich es so gewollt hätte!“
Hing dort wirklich die ganze Zeit die Axt?, grübelte Mike, doch er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Zugegeben, es gab kaum etwas, auf das er in diesem Zustand geachtete hatte. Es gab damals nur ihn und sein Verlangen nach Fusel. Alleine bei dem Gedanken, dass er sich in diesem Zustand hätte verteidigen müssen, ließ es ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen.
„Aber wieso? Wieso hast du das nicht ausgenützt.“
„Wirklich? Keine zwanzig Meter von uns entfernt steht ein saftiges Abendessen und ich soll dir meine Beweggründe erklären?“
„Wenn du mein Gewehr haben willst, dann ja.“
„Ich kann es nicht. In Ordnung? Ich hab keine Ahnung, wieso ich es nicht gemacht habe. Hat sich einfach falsch angefühlt.“
„Falsch?“
„Ja. Vielleicht kam auch etwas Mitleid dazu. Hast echt übel ausgeschaut.“
Ab und zu gibt es, im Leben eines Menschen, Momente, wenn man weiß, dass man womöglich einen Fehler begeht und es dennoch tut. Wie Mike Calvin sein Gewehr reichte, wusste er, dass er gerade so einen Augenblick erlebte. Vielleicht würde sich bereits in der nächsten Sekunde eine Kugel durch sein Herz bohren, doch das interessierte ihn gerade nicht. Für ihn galt, dass er es einfach machen, einfach Calvin sein Vertrauen entgegenbringen musste. Nun konnte er nur noch zuschauen, ob es auch berechtigt war.
„Das Teil schaut ja antik aus.“, gab Calvin zum Besten.
„Ja, hab es vor einigen Jahren, gebraucht, günstig erstanden. Ist kaum verzogen, nur auf wirklich langen Entfernung hat es einen leichten Hang nach links auszuschlagen.“
„Gut zu wissen. Hat das Teil etwa noch eine Einzelladevorrichtung?“
„Wie gesagt, es ist wirklich schon älter.“
„Na gut. Damit sollte sich arbeiten lassen.“
Ein letztes Mal musterte Calvin argwöhnisch das alte Gewehr und wog es in seinen Händen ab, ehe er den Lauf auf das Tier richtete.
„Sag mal, Mike. Wollen wir wetten, dass ich den Bock zwischen die Augen treffe?“, fragte Calvin, während er akribisch zu zielen begann.
„Wirklich nur zwischen die Augen?“
„Ja. Ein Schuss, ein Treffer.“
„Und das mit einem Gewehr, mit dem du noch nie geschossen hast?“
„Ich hab sogar noch nie mit einer Einzelladerflinte geschossen.“
„Na dann gerne. Worum wollen wir wetten?“
„Wenn ich treffe, dann sind die Keulen für mich reserviert.“
„Und wenn nicht?“
„Kommt drauf an. Wenn ich den Bock trotzdem töte, dann bekommst du die Keulen und wenn ich überhaupt nicht treffen, dann kannst du heute meine Portion haben.“
„Gut, ich bin dabei.“
„Tut mir leid, aber ich werde dir darauf nicht die Hand geben. Dann hätte ich den Bock nicht mehr so perfekt im Visier.“
„Kein Problem.“
Doch Mikes Worte gingen unter im Krachen des Gewehrs. Gespannt drehte auch er sich nun in Richtung des Gabelbocks um und durfte mit ansehen, wie er die Wette verlor. Das Tier war auf jeden Fall getroffen und so wie der Kopf des Bocks aufplatzte, gab es keinen Zweifel daran, wo Calvin ihn getroffen hatte.
„He he.“, lachte Calvin triumphierend, „Hab doch gesagt, dass ich ein guter Schütze bin.“
„Hm. Und was hältst du von dem Gewehr?“
„Ein wenig zu leicht für meinen Geschmack, aber für solche Distanzen ist mir das egal. Ansonsten ein echt gute Flinte. Vielleicht behalte ich sie mir.“
Was hat er gerade gesagt?, schoss es Mike durch den Kopf, wie er den letzten Teil hörte.
„W-Was?“, stammelte er, wie sich Calvin auf einmal mit erhobener Waffe zu ihm umdrehte, „K-Komm schon Calvin. Das ist nicht witzig?“
„Ach so? Für dich war das Ganze bisher witzig?“
Die Aussage hätte sich Mike tatsächlich ersparen können, denn man sah es Calvin an, dass er nicht spaßte. Sein Miene war unbewegt, ja, beinahe wie aus Stein gemeißelt. Aber noch mehr erschreckten Mike Calvins Augen. In ihnen brannte ein Feuer, wie man es bei Menschen sah, die morden wollten.
„Komm schon, Calvin. Mach jetzt nichts Dummes.“
„Etwas Dummes? Weißt du was wirklich dumm war? Jemanden ein Gewehr in die Hand zu drücken, dessen Leben du zerstört hast!“
„Du weißt, dass ich dich aufhalten musste.“
„Wenigstens hast du den Mumm es nicht abzustreiten, auch wenn man dich bedroht.“
„Und was willst du jetzt machen? Mich erschießen?“
„Das klingt nach einem guten Anfang.“
„Dann mach schon!“, brüllte Mike sein Gegenüber an.
„Oh nein! Zuerst will ich eine Entschuldigung von dir.“
„Von mir?“
„Ja. Ich will, dass du sagst „Es tut mir leid, Calvin. Dafür, dass ich dir dein Leben kaputt gemacht habe und dich die ganze Zeit wie ein Stück Dreck behandle.“. Verstanden?“
„Da kannst du lange drauf warten.“
„Du willst es nicht sagen?“
„Lieber sterbe ich!“
„Dein Wunsch ist mir Befehl.“
Es war die reinste Folter, als Calvin den Abzug drückte. In Zeitlupentempo sah Mike wie der Moment seines Todes immer näher kam. Jeden Moment würde sich der Schuss lösen, das laute Krachen, das auch für den Gabelbock das Ende eingeläutet hatte.
 

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Dann klickte der Abzug, doch einen Schuss hörte man nie. Stattdessen hallte Calvins Gelächter durch die Einöde.
„Bahaha! Dein Gesicht! Herrlich!“, kreischte der einstige Verbrecherboss.
„W-Was?“, brachte Mike gerade so hervor. Er konnte nicht begreifen, was hier vor sich ging. Wieso lebte er und weshalb konnte sich Calvin vor Lachen kaum noch auf den Beinen halten?
„Haha! Schon vergessen, dass du einen Einzellader hast? Wie oft kann man mit so einem Teil denn schießen? Hm?“
Er fühlte, wie sein Herz wieder zu schlagen begann und das Blut in seinen Kopf zurückkehrte. Langsam begriff er auch, was Calvin gerade getan hatte. Allerdings konnte er sich nicht entscheiden, ob er nun erleichtert oder wütend über diesen schlechten Scherz sein sollte.
„Ich bring dich um!“, entschied sich Mike für Letzteres.
„Tut mir leid, aber ich hab es überzeugender gespielt.“
„Wir werden gleich sehen, wie überzeugend ich bin, wenn ich dir deinen verfluchten Kopf wegpuste!“
„Nachdem du nachgeladen hast.“
„Huh?“
„Weil du immer nur einen Schuss hast.“
„Das weiß ich!“
„Wieso hast du dann vorher solche Angst gehabt?“
„Ach, sei ruhig!“
„Komm schon. Sei kein Spielverderber.“
„Spielverderber? Spielverderber! Du wolltest mich gerade umbringen!“
„Nein. Wenn ich das gewollt hätte, dann hätte ich nicht auf den Gabelbock, sondern auf dich geschossen.“
„Aber...“
„Gib schon zu, ich habe dich einfach dran gekriegt. Muss dir nicht peinlich sein.“
„Grr! Gib mir schon mein verdammtes Gewehr zurück.“, fauchte Mike, ehe er Calvin die Waffe aus der Hand riss. Ihm reichte es für den heutigen Tag. Sollte doch Calvin dorthin gehen, wo der Pfeffer wächst. Er wollte nur noch seine Ruhe haben und sich in sein Bett legen.
Wie konnte Calvin ihn überhaupt so dran bekommen? Er hätte doch ganz genau wissen müssen, dass man nur einmal mit seinem Gewehr schießen konnte. Schließlich tat er es bereits seit mehr als sieben Jahren. Nun durfte er sich deswegen Calvins Häme anhören, etwas das noch viel mehr schmerzte, als es eine Kugel jemals hätte tun können.
„Ach, komm schon.“, hörte er hinter sich Calvin rufen, wie er in Richtung seiner Hütte davon rauschte, „Willst du mich wirklich wieder alleine stehen lassen? Mike?!“
„...“
„Ich will den dummen Bock nicht alleine hier her schleppen. Mike, hörst du mir überhaupt zu?“
„...“
„Willst du nicht auch etwas von dem Prachtkerl abhaben? Jetzt bleib doch stehen. Mike!“
„...“
„Na gut, es tut mir leid, dass ich dich so gut dran bekommen habe. Zufrieden? Sind wir jetzt wieder gut?“
„...“
„Nein? Schön! Es tut mir leid, dass ich dich mit einer Waffe bedroht habe, auch wenn diese nicht geladen war.“
„...“
„Ah! Bleibst du jetzt endlich stehen? Ich verspreche auch, dass es nie wieder vorkommen wird. Ich schwöre es!“
„...“
„Komm schon, Mike, hilf mir bitte mit dem Bock.“
„...“
„Du weißt, dass du dich gerade ziemlich kindisch aufführst.“
„...“
„Sag doch wenigstens etwas! Ich komm mir ja schon richtig blöd vor, wenn ich hier ein Selbstgespräch führe...“
Mehr hörte Mike nicht mehr, als er hinter sich die Tür seines Heimes zuschlug.

[Ende Kapitel 2]
 

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Kapitel 3: Die Jagd beginnt

Hätte Mike doch damals schon gewusst, dass es für eine lange Zeit die einzige Aufregung sein sollte, die er erleben würde. Die nächsten Wochen waren gekennzeichnet von einer Ereignislosigkeit, wie man sie leider nur allzu oft im Leben antrifft. Beide Männer arbeiteten fleißig an dem Bauprojekt weiter und vollendete allmählich ihr Werk. Durch diese Aufgabe voll beansprucht war es nur wenig verwunderlich, mit welcher Geschwindigkeit sie ihre Vorräte aufbrauchten. Fleisch besaßen sie durch Calvins Pferd und den Gabelbock noch zu genüge, aber die restlichen Nahrungsmittel wie Brot und Gemüse verschwanden mit erschreckender Geschwindigkeit. Mehr als das schienen sich die beide allerdings bei dem Verbrauch des Holzes geirrt zu haben.
Mike und Calvin trainierten sich eine gewisse Blindheit gegenüber solch wichtigen Umständen an. Sie wollten sich nicht um diese Angelegenheiten kümmern, wenn sie sich doch auf die Arbeit konzentrieren mussten. Diese Taktik sollte sich jedoch als fehleranfällig erweisen. Denn wenn man erst einmal das letzte Brett befestigte, konnte man das Problem nicht mehr ignorieren. Wie endlich die Gewissheit über sie hereinbrach, dass sie kein Material mehr hatten, fehlte ihnen noch immer ein Viertel des Zaunes. Dem Duo blieb keine andere Wahl, als ihre Arbeit stocken zu lassen und sich nach neuen Ressourcen umzuschauen. Zum Glück wusste Mike genau, wo sie alles finden würden, was ihnen fehlte. In einer Ortschaft namens Ronstown, die sich nur wenige Tage vom Außenposten, in südöstlicher Richtung, befand.
Allerdings gab es noch eine wichtige Frage zu beantworten, bevor Mike aufbrechen konnte. Was sollte er mit Calvin machen? Auch das war ein Grund, weshalb er sich nie die Frage stellen wollte, ob das Material noch ausruhen würde. Noch vor einiger Zeit war er davon überzeugt niemals den Außenposten verlassen zu können, solange sich Calvin bei ihm befand. Der ach so lustige „Streich“ hatte seine Meinung ebenfalls weiter untermauert. Allerdings kam er nicht darum herum zu beobachten, dass sich Calvin im Verlauf der letzten zwei Wochen nur von seiner besten Seite gezeigt hatte. Stets fleißig und wovon er noch viel mehr überrascht war, reumütig was seinen Scherz betraf. Es schien ihm in der Zwischenzeit wirklich leid zu tun, was womöglich auch daran lag, dass er damals das Tier alleine zerlegen und zum Außenposten schaffen musste.
Außerdem gab es noch etwas, das Mike in den letzten Tagen beschäftigt hatte. Es wäre Calvin bereits mehrmals möglich gewesen, ihn aus den Weg zu räumen, wenn dieser den Willen dazu gehabt hätte. Mike war sogar in der Materialhütte, um sich zu überzeugen, dass tatsächliche eine Axt neben der Tür hing. Selbst bei dem Zwischenfall mit seinem Gewehr, musste Mike Calvin zustimmen. Hätte dieser ihn tatsächlich umbringen wollen, dann wäre es mit der ersten Kugel eine Leichtigkeit gewesen. Doch Mike lebte, weil Calvin sich in beiden Situationen zurückgehalten hatte. So verrückt es auch klingen mochte, Mike beschloss daher, dass sich Calvin das Privileg verdient hatte, mit ihm mitzukommen. Es bedeutet zwar, dass er den einstigen Verbrecher zurück in die Zivilisation ließ, doch solange er ein wachsames Auge auf Calvin hatte, machte er sich keine Sorgen.
Insgesamt drei Tage würden sie brauchen. Auch wenn die beiden Männer dadurch verlangsamt wurden, dass sie nur ein Pferd besaßen, hoffte Mike es in dieser Zeit nach Ronstown zu schaffen. Ach, Ronstown. Die Stadt besaß keine besondere Bedeutung und würde man in Geschichtsbüchern nachschlagen, so würde man weder einen Eintrag über den Ort selbst, noch über seine Einwohner finden. Das hielt gerade jene jedoch nicht davon ab, ihr Zuhause als Bastion der Zivilisation zu betrachten. „Die westlichste Stadt des Ostens“ nannten sie liebevoll ihre Heimat.
Auch wenn Mike wusste, dass es sich lediglich um ein paar Straßen mit Häusern gesäumt handelte, die verwahrlosen würden, sobald eine Stadt etwas weiter westlich entstand, so war Ronstown für den Außenposten dennoch ein Segen. Hier konnte man alles besorgen was man zum Überleben benötigte. Werkzeuge, Tiere und am wichtigsten Vorräte, all das ließ sich an der Hauptstraße kaufen und dank der geringen Nachfrage auch zu erschwinglichen Preisen.

Ronstown, las Calvin auf einem hölzernen Schild am Stadtrand. Hab noch nie von diesem Kaff gehört.
Auch wenn Calvin die Ortschaft völlig fremd war, schien es, als würde man ihn hier nur allzu gut kennen. Er wusste nicht, ob es Mike einfach nicht auffiel oder es ihn absolut nicht interessierte, dass die Leute dieser Absteige sie argwöhnisch betrachteten. Es reichte auf jeden Fall, um Calvin nervös zu machen, während sie, von westlicher Seite her, direkt in die Hauptstraße hinein ritten.
Womöglich war es einfach nur die Vorsicht, die er sich im Laufe der Jahre angeeignet hatte. Schließlich bedeutete es für einen Ganove nie etwas Gutes, wenn mehr als ein Paar Augen ihn gerichtet war. Bei genauerer Betrachtung kam er jedoch nicht umher festzustellen, dass die meisten Leute mehr als harmlos wirkten. Farmerkleidung, alt und abgetragen, wo man auch hinsah. Außerdem musterten die Besitzer dieser feinen Gewänder sie nur heimlich, denn sobald Calvin direkten Augenkontakt herstellte, flüchteten sie mit ihren Blicken geschwind zu Boden.
Lediglich zwei Männer schienen, seinen starren Augen standzuhalten. Sie stachen auch ansonsten aus der Menge hervor, da sie gänzlich anders gekleidet waren, als die üblichen Stadtbewohner. Mit Reiterstiefeln, Jeanshosen, dünne Hemden und die Outfits abrundenden schweren, ledernen Jacken sahen die beiden wie zwei Reisende aus, die für längere Ritte fernab der Zivilisation gerüstet waren. Dass sie eine solche Zeit gerade hinter sich hatten, ließ die dicke Schmutzschicht auf ihren Gewändern und ihren Gesichtern erahnen.
Die Intensität die ihre Blicke aufwiesen verbunden mit der Tatsache, dass sie sofort miteinander zu flüstern begannen, ließ Calvins Gedanken verrückt spielen. Um nicht noch mehr Aufmerksamkeit als nötig auf sich zu lenken, ließ nun Calvin seinen Blick weiter schweifen und verlor die beiden aus den Augen. Stattdessen sah er die Hauptstraße von Ronstown vor sich und damit den einzigen Platz in dieser Stadt, an dem man als Fremder Interesse haben konnte.
Auch wenn er als Außenstehender den Charakter dieser Stadt und seiner Einwohner suspekt fand, so konnte man doch nur bewundernd die Häuser und Läden erblicken, die von der Vielfalt her mit größeren Ortschaften des Ostens mithalten konnten. Es schien dass beinahe jede Handwerkskunst, die dem Europäer oder dem amerikanischen Immigranten bekannt war, in diesem Örtchen mit einem eigenen Laden vertreten war. Es gab einen Schneider, Tischler, Töpfer, Schuster, Schmied und so vieles mehr, dass Calvin sich beim innerlichen Aufzählen der einzelnen Berufe nach kürzester Zeit langweilte.
Es gab lediglich ein Geschäft, welches es schaffte seine Aufmerksamkeit vollends auf sich zu lenken. Das mochte weniger am äußeren Erscheinungsbild liegen, als an der schieren Größe, die sogar dem hiesigen Saloon Konkurrenz machte. Was hätte Calvin nur für Augen gemacht, wenn ihm Mike bereits da erzählt hätte, dass sich an der Rückseite ein dazugehörender Hinterhof befand, in dem gut und gern ein dutzend Pferde untergebracht werden konnten.
Stattdessen musterte er mit kritischem Blick die Aufschrift, die in fünfzig Zentimeter hohen, metallenen Buchstaben auf dem zweistöckigen Gebäude prangte. „Traveller's Store“ stand dort und obwohl Calvin keine Ahnung von den lokalen Örtlichkeiten hatte, so vermutete er doch, dass sie in diesem Laden vorbeischauen würden. Mit stiller Genugtuung bemerkte er rasch, dass Mike tatsächlich sein Pferd in Richtung des Geschäftes lenkte und es anschließend an einem Gestänge vor der Veranda festband.
 

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Calvin stand hinter Mike und schaute ihm über die Schulter, wie dieser die Tür aufmachte. Dadurch erhaschte er bereits einen ersten Blick in das Innere des so schlicht aussehenden Ladens. Im Gegensatz zum äußeren Erscheinungsbild mochte das eigentliche Geschäft nicht in diese kleine Stadt passen. Die komplette Holzverkleidung war schneeweiß gebeizt und erstrahlte den Raum in einer Art und Weise, die man niemals mit bloßem Licht hätte erzielen können. Abgesehen von den Wänden schien jegliches Mobiliar aus einem sehr hellen Holz gemacht worden zu sein. Buche wie Calvin vermutete, auch wenn es bedeuten würde, dass der Inhaber das Holz aus dem Osten hat importieren lassen. Das Hellbraun stach einem ins Auge, egal wo man auch hinblickte. Während gegenüber der Eingangstür einen breite Tresen stand, der fast die gesamte Länge des Raumes in Anspruch nahm, waren die restliche Wände mit Regalen des selben Materials zugestellt. In besagten Regalen konnte man alles sehen und finden, was das Herz des Reisenden höher schlagen ließ. Die rechte Seite war komplett der Verpflegung gewidmet und auf den Regalböden stapelten sich Säcke voll Mais, Hafer, Mehl und sonstigen Inhalten, denen Calvin beim schnellen Überfliegen keine Beachtung schenkte. Dazu kamen Dosen mit angeblich hausgemachtem Chili und dem Pulver für das lebenswichtige Elixier Kaffee. Natürlich durften auf dieser Seite auch nicht diverse Kochutensilien fehlen, von welchen Calvin manche benennen konnte, wie Töpfe und Kaffeekannen, während ihm andere wieder völlig fremd erschienen.
Die linke Seite war dagegen allen anderen Bedürfnissen gewidmet, die man draußen in der Natur erwarten durfte. Hier fand man Rasiermesser, Seile, Schaufeln und anderes Werkzeug, Munition und sogar so manche Waffe, von denen keine einzige Rostflecken aufzuweisen schien.
Neben dem Sammelsurium, das diesen Raum auszeichnete, zog auch der Inhaber dieses Ladens die Aufmerksamkeit jedes eintretenden Kunden sofort auf sich. Wenigstens vermutete Calvin, dass der Mann hinter dem Tresen der Besitzer war.
Er mochte um die sechzig Jahre alt sein, wie Calvin anhand seiner tiefen Falten schätzte. Im Gegensatz zu den restlichen Vertretern seiner Alters schien er jedoch keine Vorliebe für einen Rauschebart entwickelt zu haben, sondern trug sein Gesicht glatt rasiert, wie man es sonst nur bei feinen Leuten aus der Stadt oder Knaben kannte.
Man konnte daher nicht erraten, ob er noch graumelierte Haare oder bereits eine schlohweiße Mähne besaß, wäre es nicht für einzelne, graue Haarsträhnen gewesen, die unter seiner schwarzen Melone hervorragte. Ein solcher Hut war in diesen Breitengraden mehr als selten und unterstrich damit nur noch mehr die Kuriosität des Mannes. Neben dieser kostspieligen Kopfbedeckung trug er ein reinweißes Hemd, mit hochgekrempelten Ärmeln, eine schwarze Samthose und zuletzt eine Gelee, welches über dem Hemd eng anlag. Lediglich sein Schuhwerk konnte Calvin nicht erspähen, da es von dem Verkaufstresen verdeckt wurde. Er bezweifelte jedoch, dass der Inhaber an den Schuhe gespart hätte. Mit Sicherheit waren sie von einer ähnliche hohen Qualität, wie der Rest seiner Kleidung.
„Guten Tag, werter Herr.“, schallte es durch den Raum, ehe Mike überhaupt die Gelegenheit hatte vollends durch die Tür zu treten.
Mike grüßte höflich zurück und hob dabei seinen Hut ein klein wenig an. Calvin hingegen trottete hinter seinem Gefährten in den Laden und widmete dem Verkäufer nur einen kurzen Blick. Er hielt nicht viel von solchen Floskeln. Höfliche Worte konnte schließlich jeder sagen. Es war jedoch etwas komplett anderes auch danach zu handeln. Wenn er so darüber nachdachte, hatte er sein ganzes Leben lang nur höflich gegrüßt, wenn er irgendetwas von der Person wollte. Dennoch hätte wohl auch er seinen Hut in Begrüßung angetippt, wäre ihm dieser nicht bereits vor langer Zeit abhanden gekommen.
„Wir sind auf der Suche nach einem geeigneten Reittier, für meinen Kameraden hier und einem Karren.“, fuhr Mike fort, während sich Calvin intensiv darüber Gedanken machte, dass er einen neuen Hut gebrauchen könnte.
„Oh, Pferde habe ich genug anzubieten. Die meisten sind auf einer Weide etwas abseits unserer beschaulichen Stadt, aber die besten Exemplare lasse ich extra im Hinterhof, falls sich ein paar müde Reisenden, wie euresgleichen, bei mir blicken lassen. Was den Karren betrifft werdet ihr in unserer Stadt aber leider kein Glück haben. Ich hab keinen neuen und unser Tischler, möge Gott seiner Seele gnädig sein, ist vor kurzem gestorben. Eine wahre Tragödie und dabei auch noch so überraschend. War immer kerngesund, der gute, alte Tom. Dann geht er eines Abends in den Saloon und noch bevor er seinen ersten Drink bekommt, beginnt er plötzlich wie verrückt aus der Nase zu bluten. Als er an dem Abend dann schlafen gegangen ist, ist er nie wieder aufgewacht.“
Calvin konnte spüren, wie er den Verkäufer mit jedem Wort weniger leiden konnte. Solche Speichellecker, durfte er in seinem Leben schon zu genüge kennen lernen. Gerade in einem solch kleinen Städtchen im Westen hätte er sich allerdings erhofft keinen solchen anzufinden.
„Aber was interessiert die Herrschaften schon Toms Tod? Auf jeden Fall ist jetzt nur noch sein Lehrling in der Stadt und der ist noch weit davon entfernt ein wahrer Meister zu werden. Vielleicht kommt ja mal wieder einer vorbei, der die Ausbildung des Jungens abschließen kann, aber bis dahin können wir hier nichts anbieten.“, floss es aus dem alten Mann heraus.
„Es gibt also wirklich keinen einzigen Karren in dieser Stadt? Das kann ich mir kaum vorstellen. Wir suchen ja keinen Neuen. Er muss nur drei Tage Reise überstehen. Wir können auch gut zahlen.“
Calvin wusste nicht, was schlimmer war. Dem Gefasel des Inhabers weiterhin zuzuhören oder mitzuerleben, wie sich Mike auf dasselbe Niveau herabließ. So sprach er doch auch nicht, wenn sie untereinander redeten. Verflucht noch mal, so unterhielt sich doch niemand!
„Wenn der Gentleman so dringend einen braucht, dann könnte meine Wenigkeit vielleicht noch einen im Schuppen haben. Allerdings müsste natürlich gewährleistet sein, dass meine Verluste, die durch den Verkauf dieses wichtigen Utensils anfallen, entsprechend kompensiert werden.“
Calvin spürte, wie die Ader an seiner Schläfe zu pulsieren begann, wenn er diesem Mann zuhören musste. Im Takt der Worte schoss sein Blut durch das Gefäß. Lange würde er dieser Unterhaltung und vor allem diesen Kerl nicht mehr aushalten. Es brauchte nicht viel Menschenkenntnis, um zu bemerken, dass es sich um einen Mann handelte, der sich für etwas viel Besseres hielt, als was er eigentlich war. In Verbindung mit seiner verschlagenen Art und seinen heuchlerischen Bemerkungen versetzte er Calvins Blut in Wallung. Mike hingegen reagierte mit einer Gelassenheit, dass sich Calvin erneut nicht entscheiden konnte, ob er ihn dafür bewundern oder verabscheuen sollte.
„Wie bereits gesagt: Wir können gut zahlen. Falls Sie also so nett wären und mir den Karren zeigen könnten. Mein Kamerad kann in der Zwischenzeit die restlichen Sachen aussuchen, die wir brauchen werden.“
Man sah es dem Verkäufer deutlich an, dass ihm der Gedanke, einen Kunden ohne Beaufsichtigung zu lassen, die Nackenhaare aufstellte. Wenigstens wäre es so gewesen, wenn er überhaupt über solche verfügt hätte. Doch die Verlockung über ein gutes Geschäft schien zu groß, als dass er riskieren wollte, seine Gäste durch irgendwelche Anschuldigungen zu vergraulen. So verschwand er, mit Mike im Schlepptau durch eine Tür hinter dem Tresen und ließ Calvin alleine zurück.
Na toll. Wie ich Mike kenne, kauft der uns sicherlich einen Schrotthaufen. Hm. Vielleicht ist es trotzdem besser so, ging es Calvin durch den Kopf, da er sich nicht sicher war, ob er die unverschämten Verhandlungsversuche des Verkäufers hätte ruhig ertragen können. Stattdessen ließ er seinen Blick in Ruhe über alle Tiegel, Töpfe, Säcke und sonstige Gegenstände schweifen, die in den Regalen lagen. Während er von einem Regal zum anderen wanderte, die Waren dort verglich und nach langen Überlegungen etwas auswählte, stapelten sich die bereits ausgesuchten Waren auf dem Tresen des Verkäufers.
 

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[Leider kam es wieder zu einer etwas längeren Pause, weil bei mir momentan die Uni-Prüfungen anstehen. Hoffe man kann es mir verzeihen.]
 

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Sorgen über die Kosten machte sich Calvin indes keine. Es mochte vielleicht nicht danach ausschauen, aber Mike besaß mehr Geld, als man ihm zutrauen würde. Er ließ es einen nur nie fühlen. So mancher könnte sogar zu der Überzeugung kommen, dass Mike zu den Menschen gehörte, die von der Hand in den Mund lebte. Ja, selbst Calvin nahm es die ganze Zeit über an, bis ihm Mike vor zwei Tagen endlich die Wahrheit gestanden hatte. Nun wusste er, dass Mike einer der wenigen Nutznießer der Zerschlagung seines Kartell war.
Natürlich handelte es sich bei Mike nicht um den Einzigen. Andere, die ebenfalls an Calvins Fall beteiligt waren, stritten sich jedoch noch immer um die Geschäftszweige, die er über die Jahre mühsam aufgebaut hatte. Dazu zählten diverse Farmen, Minen und sonstigen Betriebsgebäude, die unter seiner Kontrolle viel Geld einbrachten. Allerdings konnte man die Gewinne auch leicht steigern, wenn man sich nicht um Arbeitssicherheit oder das Verbot der Sklaverei scherte. Calvin war davon überzeugt, dass die neuen Besitzer noch ihre Überraschung mit den Zahlen haben würde, sobald sie die Sachen legal betreiben müssten. Mike hingegen wollte von all dem nie etwas wissen. Ihm wurde stattdessen Calvins Villa zugesprochen, mit allen Besitztümern die sich darin befanden. Doch selbst das kümmerte ihn nicht! Er hatte einfach alles an den Höchstbietenden verkauft, für eine Summe, bei der Calvin jetzt noch weinen könnte. Zum einen, weil er viel mehr Geld in seinen Besitz hineingesteckt hatte und zum anderen, weil es noch immer eine so hohe Summe war, dass er sich über Mikes neuen Reichtum Grün und Blau ärgerte. Er wollte gar nicht mehr an den genauen Betrag denken. Eines war jedoch klar. Mike gehörte nun zu den Männern, die sich nie wieder Sorgen um Geld machen müssten. So wie einst Calvin selber.
Welch eine Ironie, dass er nun doch noch indirekt an seinem einstigen Vermögen teilhaben konnte. Da interessierte es ihn auf einmal auch gar nicht mehr, wie legal diese „Sonderregelung“ tatsächlich war. Er mochte diesen Ausdruck sowieso nie. Sonderregelung. Alleine, dass die Würdenträger die Aufteilung seines Besitzes so nannten, überzeugte Calvin, dass sicherlich Geld in private Taschen gelandet war.
Und so türmte er weiter, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, während er leicht vergnügt und gedankenverloren ein altes Armeelied zum Besten gab. Er sang gerade von der Rückkehr eines geschundenen Soldaten zu seiner Familie, als auch Mike und der Ladenbesitzer ihren Weg zurück in das Innere des Ladens fanden. Leicht amüsiert stellte Calvin fest, wie kalt das Klima zwischen den beiden plötzlich war. Wobei man es kaum noch Klima nenne konnte. Während Mike mit hochrotem Kopf durch die Gegend lief, schien der Verkäufer auf einmal eben um zwei solche kleiner zu sein.
„...zig Dollar gebe ich dir für das Pferd, den Schrottkarren da draußen und alles was hier auf dem Tresen liegt! Verstanden?“, zischte Mike. Es war erstaunlich. Noch nie zuvor durfte Calvin beobachten, wie jemand mit scheinbar unbeweglichen Lippen, Worte so deutlich hervorbrachte.
„Aber Sir, ich muss doch zuerst noch den Wert der Waren bestimmen, die ihr Begleiter noch zusätzlich ausgesucht hat.“
Mit einer beeindruckenden Körperspannung schaffte Mike es, aus dem Laufschritt, mit dem er in den Raum gestürmt war, abzubremsen und auf dem Absatz kehrt zu machen. Eine Handbreite vom Inhaber entfernt, blieb er stehen und starrte ihn an. Dieser, überrascht von der plötzlichen Aktion, konnte gerade noch anhalten, bevor er in Mike gerannt wäre. Da konnte der Verkäufer von Glück reden, denn es sah aus, als wäre er ansonsten wie eine Welle an der Brandung zerschellt.
Ihre Blicke trafen sich. Mehr brauchte es nicht, um noch einen Kopf von der Körperhöhe des Mannes zu entfernen. Zu einem Häufchen Elend zusammengeschrumpft huschte der Ladenbesitzer an Mike vorbei und begann mit einer unglaublichen Eile die einzelnen Gegenstände zu katalogisieren. Dabei bediente er sich einer vorgefertigten Liste, mit handgezeichneter Tabelle. Die Spalte mit den Preisen füllte er bei keinem Produkt aus.
Anschließend begann er mit Paketschnüren alles geschickt zusammenzubinden. So wurde aus dem Haufen an Gütern kleine Päckchen, die er dann wiederum zu einem großen Bündel zusammenschnürte. Ohne ein weiteres Wort zog er es, hinter sich aus dem Laden hinaus und bewies damit ein Geschick und eine Stärke, die ihm Calvin eigentlich gar nicht zugetraut hätte. Womöglich war es auch die Wirkung von Mikes unnachgiebigem Blick. Das schien das Männchen förmlich anzuschieben.
„So gefällst du mir schon besser. Dachte schon du und der Typ werdet beste Freunde.“, bemerkte Calvin in der Sekunde, in der sich die Tür hinter dem Ladenbesitzer geschlossen hatte.
Alleine beim Gedanken stieg Mike wieder das Blut in den Kopf. Langsam schien er bereits mehr Tomate als Mensch zu sein.
„Kannst du den Mistkerl fassen?! Der Idiot hat mir einen Wagen gezeigt, der jede Sekunde zusammenbrechen wird. Und dann! Dann hat er mir die Pferde gezeigt. Unglaublich, sag ich dir. Wenn das seine besten Tiere sind, will ich nicht wissen, was sonst so auf seiner Weide steht. Ahhhh. Aber du wirst es schon noch früh genug sehen. Behalte nur im Hinterkopf, dass die Stute das Beste aus dem Dutzend war.“
„Und nun die große Frage. Wie viel wollt er für den Spaß haben?“
„Grr. Erinnere mich bloß nicht dran.“
„Jetzt mach es nicht so spannend.“
„Verdammte einhundertfünfzig Dollar! Kannst du das glauben? Das Pferd ist vielleicht Zwanzig wert und für den Karren sollte er eigentlich uns bezahlen, dass wir so nett sind und seinen Müll entsorgen. Bah! Ich hoffe du hast da seinen halben Laden auf den Tresen gepackt.“
„Nicht ganz, aber natürlich habe ich nur das Beste vom Besten für uns ausgesucht.“
„Gut so.“
Die Ader an Mikes Schläfe war gerade dabei abzuschwellen, als der Besitzer erneut vor den beiden stand. Noch ehe die Tür ins Schloss fiel begann das Äderchen wieder freudig zu pulsieren. Zum Glück hielt sie nichts mehr hier und sie konnten verschwinden, bevor Mike noch das Blut aus den Ohren schoss.
Ach so? Jetzt haben wir plötzlich auf unsere Manieren vergessen?, schmunzelte Calvin, wie Mike ohne ein Wort aus dem Laden stürmte und sich der Verkäufer hinter seinem Tresen wieder in Sicherheit brachte. Das Grinsen auf seinem Gesicht verschwand jedoch schnell wieder, als er vor dem berüchtigten Karren und dem Zwanzig-Dollar-Pferd stand.
„Das soll das beste Pferd gewesen sein?“
„Ganz genau und zwar bei weitem. Und? Hab ich zu viel versprochen.“
„Oh nein.“
Es sieht wie ein Gerippe aus, war das Erste, was Calvin in den Sinn kam, wie er sein neues Pferd sah. Wenn überhaupt, dann konnte man nur an den Beinen und dem Hals Spuren von Fleisch erkennen, die sich zwischen Haut und Knochen gemogelt hatten. Für diesen Mangel an Muskeln stand die Stute allerdings ziemlich stramm da. Selbst als sie anfing den Karren die Straße entlang zu ziehen, machte sie nach ein paar Metern noch keine Anstalten tot umzufallen. Ein eindeutiger Sieg.
„Bei dem Wagen hättest du aber nicht so übertreiben müssen. Fährt sich doch ganz nett.“, bemerkte Calvin, wie die beiden die Straße entlang rollten.
Natürlich sah man, dass der Karren schon ein paar Jährchen auf den Buckel hatte. Allerdings schienen die Radbeschläge und die Aufhängung noch völlig in Ordnung zu sein. Mehr verlangte Calvin von einem alten Wagen nicht.
„Ist das dein Ernst?“, fragte Mike, während er Calvin ungläubig anstarrte, „Schau dir doch einmal diese ganzen Verfärbungen an. Ist bestimmt schon alles morsch.“
„Du meinst die da?“, erkundigte sich Calvin und zeigte auf eine von vielen dunkelbraunen Verfärbungen, die sich unregelmäßig über das Holz zogen.
„Ja, genau die!“
„Das sind Wasserflecken, Mike. Kann schon mal passieren, wenn man das Holz nicht ordentlich behandelt.“
„Nein, bestimmt nicht. Das ist alles morsch.“
„Wirklich? Willst du mir unterstellen, dass ich keinen einfachen Wasserfleck erkenne?“
„Dasselbe unterstellst du mir doch!“
„Ah. Du hast wirklich keine Ahnung von Holz, oder?“
„Ach, sei still!“
 

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Der nächste Laden, bei dem sie anhielten, machte auf den ersten Blick keinen so guten Eindruck wie der Erste. Die gesamte Front war dermaßen von Wind und Wetter mitgenommen, dass man den Schriftzug über der Eingangstür kaum entziffern konnte. Wäre nicht ein hölzernes Schild gewesen, auf dem Schere, Nadel und Faden abgebildet waren, hätte man wohl kaum gewusst, dass sich in diesem Gebäude der Schneider von Ronstown befand.
„Warte hier.“ sagte Mike, ehe er von dem Karren hinunter sprang und in eben jenem Geschäft verschwand.
Eigentlich hätte Calvin selber gerne einen kurzen Blick in den Laden geworfen. In der prallen Sonne fühlte es sich einmal mehr an, als würde sein Kopf einem Kochtopf gleichen. Normalerweise ärgerte er sich in solchen Situationen darüber, dass er seinen alten Hut auf jene dumme Weise verloren hatte, doch in diesem Moment nahm etwas anderes seine Aufmerksamkeit in Anspruch, dass er doch glatt die alte Geschichte vergaß.
Auf der anderen Straßenseite, gemütlich gegen die Ecke eines Hauses lehnend, stand einer der beiden Männer, die ihn bereits beim Eintreffen in der Stadt mit Argwohn beobachtet hatten. So wie vorher auch, konnte sich Calvin nicht des Gefühls erwehren, dass in diesem Blick mehr lag, als das gewöhnliche Misstrauen einem Fremden gegenüber. Es erinnerte ihn an ein Raubtier, das gerade seine nächste Beute beobachtete.
Und tatsächlich. Wie eine Raubkatze setzte sich der bärtige Mann elegant und mit sanften Schritten in Bewegung. Für den unaufmerksamen Beobachter mochte es wirken, als würde er nur durch die Gegend schlendern. Calvin alleine hatte ein ungutes Bauchgefühl, wie er den Fremden aus dem Augenwinkel heraus verfolgte, denn für ihn war es eindeutig, dass dieser direkt auf ihn zuhielt.
Der Augenblick, der Calvin jedoch hochspringen ließ, sollte erst kommen. Auf halber Strecke glitt die Hand des Fremden geschmeidig zu seinem Holster. Nun handelte es nicht mehr um ein schlechtes Gefühl, sondern um Gewissheit, dass dieser Typ mit ihm anbandeln wollte. Doch was sollte er nun tun? Der Mann sah etwas ruppig aus, aber im Normalfall hätte sich Calvin wohl kaum vor so einem Kerl gefürchtet. Mit diesem Schlag Mensch durfte er schon oft genug Bekanntschaft machen. Allerdings konnte er sich bisher immer darauf verlassen, dass dabei eine Waffe an seinem Gürtel hing. Nun war er jedoch völlig wehrlos. So etwas wäre ihm früher niemals untergekommen. Schließlich hieß es doch, dass man kein Messer zu einer Schießerei mitnehmen sollte. Nun konnte er nicht einmal darauf zurückgreifen, sondern nur noch auf seine Fäuste.
Seine einzige Chance bestand darin, dem ersten Schuss zu entgehen und darauf zu hoffen, dass Mike schnell genug kommen würde, um den Zweiten zu verhindern. Gerade als er sich überlegte, wie er dieser einen Kugel entkommen könnte, hörte er wie sich die Tür des Geschäftes öffnete und Mike im nächsten Moment wieder neben ihm saß. Davon abgelenkt verlor er den Unbekannten für eine Sekunde aus den Augen, doch wie er sich wieder nach ihm umsah, war keine Spur von ihm zu sehen. Er hatte sich scheinbar in Luft aufgelöst.
„Hab noch schnell was für dich besorgt. Hoffe er passt dir.“, hörte er neben sich jemanden sagen. Doch in seinem Gehirn war gerade klein Platz für so etwas. Es schwirrten noch überall die verschiedenen Bewegungsabläufe herum, die er sich für den Ernstfall zurecht gelegt hatte. Er bekam mit, dass neben ihm jemand etwas sagte, aber die Worte an sich wurden nicht verarbeitet.
„Hey! Calvin? Alles in Ordnung?“
Nur langsam schien Calvin zu verstehen, dass sich der Unbekannte aus dem Staub gemacht hatte. Dass er sich in Sicherheit befand. Erst als diese Erkenntnis endlich zu ihm durchsickerte, bekam er vollends mit, dass Mike in der Zwischenzeit mit ihm redete.
„Ja“, schaffte es Calvin irgendwie ohne Stottern herauszubekommen. Aber war wirklich alles in Ordnung? Sollte er Mike nicht erzählen, dass er vor einigen Sekunden noch dachte dem Tode geweiht zu sein?
Er wollte es. So unsinnig es für ihn anfangs erschien, er wollte es Mike berichten. Doch bevor er etwas sagen konnte, stiegen in ihm plötzlich Zweifel hoch. Allerdings ging es dabei weniger um seine Entscheidung, als um die Sicht der Dinge. Hatte er wirklich all das gesehen oder es sich nur eingebildet?
Das fing damit an, dass er sich auf einmal unsicher fühlte, ob es tatsächlich der Mann war, der ihn bei seiner Ankunft angestarrt hatte. Er versuchte sich genau an seine Züge zu erinnern und auch wenn sich die Gesichter zweifelsohne ähnlich sahen, reichte das etwa bereits als Beweis? Wo befand sich überhaupt sein Gefährte? Seine Jacke von vorher fehlte auch, fiel Calvin plötzlich auf, auch wenn der Unbekannte diese natürlich irgendwo hätte liegen lassen können.
Aber was war mit der Handbewegung zu seinem Revolver? Calvin hatte eindeutig beobachtet, dass die Hand des Fremden zu seinem Holster glitt. Oder vielleicht doch nur zu seinem Gürtel?, fing Calvin erneut an zu zweifeln. Die Bewegung alleine hatte gereicht, um ihn in Panik zu versetzen. Danach, das musste er zugeben, hatte er sich nicht darauf konzentriert, wo die Finger tatsächlich hinfuhren.
Je länger er darüber nachdachte, desto unsicherer wurde er sich, ob er überhaupt irgendeiner Gefahr ausgesetzt war. Er konnte sich ja nicht einmal erinnern, ob der Kerl nach seinem Revolver greifen wollte oder nicht. Die einzigen Anhaltspunkte die ihm noch übrig blieben, bestanden aus dem plötzlichen Verschwinden und diesem Blick, den sich Calvin unmöglich hatte einbilden können. Aber konnte er damit wirklich irgendetwas beweisen? Selbst Calvin musste einsehen, dass er sich gerade etwas paranoid aufführte. Vielleicht hing es einfach damit zusammen, dass er so lange nicht mehr unter Leuten war. Die letzten Wochen hatte er isoliert am Außenposten verbracht und auch davor wurde er eine Zeit lang nur als Gefangener herumgereicht. Das letzte Mal, als er sich normal in einer Stadt aufgehalten hatte musste bereits Monate her sein und selbst dann waren seine Bodyguards stets mit von der Partie.
„Wirklich?“, hakte Mike noch einmal nach, „Du schaust gerade ziemlich durch den Wind aus.“
„Es ist wirklich alles in Ordnung. Ich fang nur langsam an Gespenster zu sehen.“, antwortete Calvin wahrheitsgemäß. Dennoch beschloss er Mike die ganze Angelegenheit zu verschweigen. Falls er sich alles einbildete, würde er sich nur lächerlich machen und wenn nicht...darüber wollte er sich momentan keine Gedanken machen. Stattdessen konzentrierte er sich lieber darauf die Augen offen zu halten.
„Aha. Lässt dich die Sonne jetzt endgültig den Verstand verlieren?“
„Ja, das muss es wohl sein.“
„Dann kannst du dich glücklich schätzen. Ich hab die Lösung gleich hier.“
Noch bevor Calvin das obligatorische „Was?“ fragen konnte, holte Mike hinter seinem Rücken einen schwarzen Hut hervor. Nein, nicht nur einen Hut, einen Stetson.
„Farblich passend zu deiner Seele.“
„Ouch. Das war ein Tiefschlag.“
„Ach! Ich mach doch nur Scherze.“
„Allerdings sehr schlechte.“
„Als ob du reden musst. Jetzt setz ihn schon auf. Will wissen, ob er dir passt.“
Und wie er passte! Wie angegossen. Vor einigen Monaten machte sich Calvin noch darüber lustig, was für eine Luftblase in Mikes Kopf sein müsste, damit die beiden einen gleich großen Schädel besaßen. Nun schien es sich endlich auszuzahlen, dass die beiden mit dem selben Quadratschädel gesegnet waren.
Ein weiteres Mal durfte Calvin am eigenen Leibe erfahren, dass es die kleinen Sachen waren, die einen umso glücklicher machten. Ein Hut gehörte zu der Standardausstattung eines jeden Mannes. Dieser war derart selbstverständlich, dass sich kaum einer viele Gedanken machte, wenn es um eine Kopfbedeckung ging, vor allem er selber nicht. Erst nach all den Wochen, in denen er mit einem schlimmen Sonnenbrand am Kopf herumrennen hat müssen und all den Gelegenheiten, als er schon geglaubt hatte, dass er gleich umkippen würde, konnte er erst richtig würdigen, wie gut sich ein Hut doch anfühlte.
„Hätte nie gedacht, dass es auch solche Läden in Ronstown gibt. Habe schon befürchtet, dass die alle wie der Traveller's Store sind.“, bemerkte Calvin, während er versuchte die perfekte Position für den Stetson zu finden.
„Fang nicht wieder mit dem an! Ich habe mich bis jetzt auch immer an die kleineren Geschäfte gehalten. Nur heute dachte ich mir „Hm, lass uns mal da rein gehen, dann müssen wir nicht dutzende Geschäfte abklappern“. Schwerer Irrtum.“
„Nie wieder?“
„Nie wieder!“
„Also. Wir haben jetzt alles, was wir brauchen?“
„Ja, schätze schon.“
„Willst du dann schon zurückreiten oder verbringen wir die Nacht noch in der Stadt?“
 

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Calvin selber konnte sich nicht entscheiden, was ihm lieber wäre. Falls er sich die Situation vor einigen Minuten doch nicht nur einbildete, dann sollten sie die Gegend so schnell wie möglich verlassen. Aber was wenn doch? Was wenn es sich mehr in seinem Kopf abspielte, als in Wirklichkeit? Schließlich handelte es sich hier um eine der seltenen Gelegenheiten, mal wieder unter Leute zu kommen und dem tristen Alltag des Außenpostens zu entfliehen. Wollte er so eine Chance einfach verstreichen lassen?
„Hm. Gute Frage. Es ist kurz nach Mittag, als könnten wir eigentlich gemütlich aufbrechen. Aber, ehrlich gesagt, hab ich heute keine besondere Lust mehr. Wir sind die letzten Tage fast ohne Pause durchgeritten. Da haben wir uns doch wenigstens hier mal eine kleine Pause verdient. Meinst du etwa nicht?“
„Mir soll es recht sein. Es ist sowieso schon viel zu lange her, seit ich das letzte Mal in einem Saloon war.“
Moment!, schoss es Calvin durch den Kopf. Saloon. Irgendetwas war da doch. Es fühlte sich an, als hätte er etwas Falsches gesagt, als wäre ihm etwas Wichtiges entfallen. Etwas, das mit einem Saloon in Verbindung stand. Lange musste er allerdings nicht Rätseln, denn Mikes Gesicht sprach Bände.
„Äh, tut mir leid, Mike. Habe ganz deine „Einstellung“ zum Trinken vergessen.“, versuchte Calvin noch zu retten, was zu retten ging, doch Mike winkte bereits ab.
„Ist schon in Ordnung. Die letzte Zeit habe ich halbwegs gut überstanden, da wird mich das jetzt nicht klein kriegen. Ich sehe es einfach als Herausforderung an. Eine Bedingung hab ich jedoch.“
„Und welche?“
„Falls ich schwach werde, gib mir ordentlich eine, bevor ich einen Schluck nehme. Einverstanden?“
„Haha. Du solltest mich besser kennen. Das mach ich liebend gerne.“
 

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Dieses Brennen. Er mochte es nicht wirklich vermisst haben, aber – oh Junge – dieses Brennen erweckte in ihm alle Lebensgeister.
„Bah! Sei froh, dass du heute Abend trocken bleibst. Das Gesöff ist die reinste Säure. Welcher Farmer hat den denn in seinem Keller gebrannt?“, gab Calvin mit verzogenem Gesicht zum Besten. Dabei konnte man ihn in der Hinsicht wohl kaum als zimperlich bezeichnen. Früher musste er schließlich auch so manches Zeug trinken, das einem die Nasenhaare wegätzte. Denn welche Band besaß schon Zugang zu einem guten Fusel? Aber das hier, das war einfach nur eine Frechheit, die der Brauerei irgendeines Kerls entsprang, der keine Ahnung von der feinen Kunst der Whiskeyherstellung besaß. Aber wo ein Kunde, da ein Verkäufer. Und der Rest der Anwesenden schien dieses Gesöff zu lieben. Jeder Zweite bestellte sich diesen „Whiskey des Hauses“. Deshalb war Calvin ja auch erst auf die dumme Idee gekommen, sich diesen Fusel zu bestellen.
„Hab dir doch gesagt, dass du die Finger davon lassen sollst. Nur weil alle ihn wollen, heißt es noch lange nicht, dass er gut ist.“
„Kennst dich gut mit solchen Sachen aus.“
„Mhm.“
„Gib schon zu. Du hast ihn selber mal getrunken.“
„Und den ganzen Morgen danach gespieben. Ja, ich weiß wovon ich rede.“
„Muss ich mir Sorgen machen?“
„Solange du darauf verzichtest zehn weitere zu bestellen, dann nicht.“
„Zehn?! Das Zeug ist doch das reinste Gift!“
Er bekam gar nicht mit, wie sehr er beim letzten Satz seine Stimme erhob. Erst als sich neben den anderen Bargäste am Tresen, auch noch der Barkeeper zu ihm umdrehte, begriff es Calvin. Es mochte ihn nicht interessieren, aber die Blicke spürte er dennoch auf sich ruhen, während er unbeirrt fortfuhr:
„Wie kann man sich elf von denen antun?“
„Was soll ich sagen? Sie sind das Günstigste auf der Karte und ich hatte damals kaum Geld dabei.“
„Aber einen ordentlichen Durst.“
„Kann man so sagen.“
„Und wie schaut es heute aus? Bist du noch der Fels in der Brandung?“
„Gute Frage. Habe ich Lust mir die nächstbeste Flasche zu schnappen und sie leer zu saufen? Ja. Würde ich deinen Kopf am liebsten gegen den Tresen knallen, damit ich den letzten Rest aus deinem Stamperl bekommen? Auch ja. Werde ich diese Sachen jedoch wirklich machen? Womöglich nicht.“
„Vielleicht sollte ich mich doch lieber an den Pokertisch hinüber setzen.“
„Ach komm schon. Das war nur ein Scherz.“
„Dass du schlechte Scherze machst ist kein Geheimnis. Ich habe aber trotzdem mal wieder Lust auf eine Runde Poker. Falls du schon vergessen hast, ich bin wirklich gut darin.“
„Calvin?“
„Ja?“
„Du willst doch nicht etwa betrügen?“
„Also bitte. Für wen hältst du mich?“
„Das beruhigt mich nicht wirklich.“
„Dann komm mit und schau zu! Wirst schon sehen, ob ich ein Ass im Ärmel brauche, um diese paar Landeier zu besiegen.“
Es war bereits spät am Abend und der Saloon dementsprechend gefüllt bis unter die Decke. Doch nirgends herrschte so ein Gedrängel, wie um den runden Tisch, wo sich acht Männer versammelt hatten, um um ihr hart verdientes Geld zu spielen. Wie aufs Stichwort stand einer der Acht schimpfend auf, wie Calvin sich dem Tisch näherte. Geschwind schlängelte er sich durch die Reihen und ließ sich auf den Sitz fallen, ehe sich ein anderer setzen konnte.
„Abend, die Herren.“, grüßte er höflich und nickte in die Runde. Auch hier folgte er der alten Regel: Grüße die, von denen du etwas haben willst. „Ich hoffe ihr habt nichts dagegen, wenn ich die Runde wieder auffülle?“
„Ne, Bürschchen.“, antwortete ein älterer Herr mit graumelierten Zottelbart. „Solange das Geld stimmt, bist' dabei.“
Ah. Geld war natürlich so eine Sache, als Mann ohne Besitztümer. Zum Glück hatte er Mike überreden können mitzukommen und noch besser, dieser konnte ihm nun mit seinem einstigen Vermögen aushelfen. Wirklich Sorgen, dass er Mikes Geld verlieren würde, machte sich Calvin nicht. Schließlich war er hier in seinem Element.
Viele Leute behaupten, dass Texas Hold'em auf Glück basiere, doch darüber konnte Calvin nur lachen. Er kannte die Tricks, die Kniffe. Er wusste wie man sich die Wahrscheinlichkeiten in diesem Spiel berechnete, wann man aufgeben und wann zuschlagen sollte und ganz besonders begabt war er, wenn es darum ging seine Gegner zu analysieren. Poker und besonders Texas Hold'em wurde für Calvin, im Laufe der Jahre, mehr als nur ein Spiel. Es wurde zu seiner Leidenschaft. Über all die vorher erwähnten Dinge machte er sich gar keine Gedanken mehr. Es war ihm alles schon so in sein Blut übergegangen, dass er gar nicht mehr darüber nachdenken musste. Wie er in die Runde blickte, konnte er aus all diesen Gesichtern wie aus offenen Büchern lesen. Jedes Zwinkern, jedes Heben des Mundwinkels. Nichts blieb ihm verborgen.
Aber noch viel wichtiger als all das, und das beherrschte er ebenfalls, war, wie er seine Fähigkeiten richtig verbarg. Gerade in so einer Kleinstadt könnte er die Leute innerhalb einer halben Stunde über den Tisch ziehen. Aber was dann? Genau wie Mike würden sie ihn des Schummelns bezichtigen und das wäre ein Trubel, den sich Calvin doch ersparen wollte. Daher musste er aufpassen, dass er seine Gegner auch einige Male gewinnen ließ. Er wollte seine Kontrahenten nicht zerstören, sondern langsam besiegen.
Was Calvin bei seiner Planung unmöglich wissen konnte war, wie sehr sich die Summe, um die gespielt wurde, durch das lange Spiel erhöhen würde. Als sie in der neuen Gesellschaft zu spielen begannen ging es lediglich um ein paar Dollar. Für die Leute hier viel Geld, aber für Calvins frühere Verhältnisse lediglich Kleingeld. Doch jedes Mal, wenn jemand gewann, nur um alles nach kürzester Zeit wieder zu verlieren, stockte dieser seine Reserven auf. Bald ging es schon um ein paar dutzend Dollar und ehe man sich versah, wurden bereits die hundert Dollar Grenze überschritten. Das war auch der Moment, nachdem die Runde die gesamte Aufmerksamkeit des Saloons ihr eigen nennen konnten. Jede Bewegung wurde mit Anspannung verfolgt und es brach ein wahrer Tumult aus, als Calvin die magischen Worte sprach:
„All-In.“
In der Zwischenzeit waren sie nur noch zu zweit. Der ältere Mann von vorher und er selber. Beide befanden sich im Besitz von fünfundsiebzig Dollar.
„Mir machst' nichts vor, Bürschchen! Du Greenhorn bluffst doch nur! Ich geh auch All-In.“
„Vor zwei Runden hast du auch gesagt, dass er blufft. Danach war ich draußen.“, mischte sich ein rothaariger Bursche ein, den Calvin erst vor kurzem aus dem Spiel geworfen hatte.
„Damals wusst' ich auch, dass er nicht blufft. Konnte nur nicht mehr zuschauen, wie'st so lang auf deine Karten starrst, wenn'st mal dran warst.“
Dann wurden die Gemeinschaftskarten aufgelegt. Die Erste zierte eine verschnörkelte Zwei, während die Nächsten abermals eine Zwei, eine Acht, eine Sieben und einen König abbildeten. Wie der Alte bei der letzten Karte zu strahlen begann, musste man schon annehmen, dass er gewonnen hatte. Besonders da Calvins Miene unverändert starr blieb.
„Siehst, Bürschchen! Fullhouse! Mit Königen und Zweiern. War 'ne nette Partie.“
Da begann auch plötzlich Calvin zu strahlen.
„Vier Zweier!“, verkündete er und zeigte das Zweier-Paar, das er von Anfang an besaß.
 

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Das Getose des Saloons konnte man sogar noch zwei Straßen weiter lautstark hören. Mike und Calvin waren beide froh, endlich diesem Trubel entkommen zu sein. Gerade Calvin wollte man anscheinend nicht mehr fort lassen, nachdem er die ganze Ortschaft so in Ekstase versetzt hatte. Und wie geplant bezichtigte ihn kein einziger des Schummelns.
„Ich hab dir doch gesagt, dass ich keine Tricks brauche.“
„Ist ja schon gut. Ich bin beeindruckt. Zufrieden?“
„Ein Wenig. Schade, dass wir uns damals bei diesem Pokerturnier nie gegenüberstanden.“
„Sind wir doch.“
„Ja, aber wir haben nicht ordentlich gespielt.“
„Um ehrlich zu sein, ich glaub nicht, dass ich dich hätte besiegen können. Ich bin schließlich nur so weit gekommen, weil ich selbst etwas nachgeholfen habe.“
„Willst du mir etwas sagen, dass du betrogen hast?“
„So würde ich es nicht sagen. Mir ging es schließlich nicht um den Preis. Ich wollte dich nur unbedingt dingfest machen und da war mir eben jedes Mittel recht.“
„Ach ja, all diese Erinnerungen. Beinahe hätte es auch geklappt. Aber dann habe ich dir doch noch schön einen Strich durch die Rechnung gemacht.“
Ah, Calvin konnte ewig von seinen früheren Pokerturnieren schwärmen und noch mehr, wenn es darum ging, wie er Mike damals jedes Mal entwischt war. Leider gab es dafür keine Zeit mehr, denn Mike deutete bereits auf ein unscheinbares Gebäude an der Ecke vor ihnen.
„Ich hab gerade über hundert Dollar gewonnen. Müssen wir uns da ausgerechnet in so einer Abstiege einmieten?“, kam Calvin nicht darum herum zu bemerken. Für hundert Dollar könnte ich mir hier vielleicht ein Haus kaufen, fügte er in Gedanken noch hinzu.
Zu seiner Verteidigung musste man sagen, dass die Herberge von außen wirklich keinen guten Eindruck machte. Wenigstens nicht, wenn man sie mit dem prunkvollen Hotel verglich, das Calvin heute auf der Hauptstraße bewundern durfte. Es handelte sich um ein schlichtes, zweistöckiges Haus, das man jederzeit mit einem der normalen Wohnhäuser hätte verwechseln können. Nur zwei Sachen unterschieden es. Erstens der goldene Schriftzug über dem Eingang, der das Gebäude als „The Sleeping Bear“ betitelte und zweitens die abnorme Breite des Gebäudes. Nun wo Calvin endlich vor dem Eingang stand, erkannte er erst, dass die Front der Herberge die gesamten Länge des Häuserblock in Anspruch nahm und sogar noch um die Ecke etwas weiter ging. Da es sowohl an der langen, wie auch an der kurzen Seite die gleiche Tür mit dem selben Schriftzug gab, war Calvin anfangs etwas verwirrt.
„Und auf welcher Seite ist nun der Eingang.“, fragte Calvin, wie er unschlüssig an der Ecke des Gebäudes stand.
„Es ist der Eingang an der langen Front. Den anderen verwendet nur das Personal. Führt direkt in die Küche.“
„Wieso haben sie die Eingänge dann genau gleich gemacht?“
„Meinst du das ist schon verwirrend? Auf der anderen Seiten haben sie noch ein eigenes Gebäude, wo man seine Pferde unterbringen kann. Die Tür ist noch größer und einladender als die beiden hier. Beim ersten Mal wollte ich schnurstracks dort hineingehen. Du willst nicht wissen wie lange ich dort gestanden bin und mich gewundert habe, wieso zugesperrt ist. Hat eine halbe Stunde gedauert, bis mich endlich jemand aufgeklärt hat.“
„Oh Gott! In was für eine Hütte schleppst du mich nur?“
„Ach, dir wird es schon gefallen. Dieses schnöselige Hotel auf der Hauptstraße ist viel schlimmer. Dort bist du nur von so Leuten, wie dem Verkäufer von heute Vormittag umgeben.“
Das hörte sich tatsächlich grauenvoll an, wie Calvin zweifelsohne zugeben musste. Allerdings war er der Herberge gegenüber noch immer skeptisch, bis sie durch die Tür an der langen Front eintraten.
Sie befanden sich in einem Vorraum, den man, wie die Gebäudefront, als ländlich schlicht bezeichnen konnte. Die ganzen gepolsterten Sessel und erst recht die Zierdeckchen, wollten es Calvin nicht recht antun. Wirklich überrascht wurde er hingegen von dem Mann, der hinter einer Theke seinen Job, als Portier der Herberge, ausübte. Keine überschwängliche Begrüßung ließ er ihnen zukommen, ja nicht einmal Aufmerksamkeit schien er ihnen zu schenken. Einzig und alleine ein Grunzen bekamen sie zu hören, wie sie durch die Tür traten. Ah, wie Calvin dieses Grunzen doch vermisst hatte. Die einfache Art des beschäftigten Mannes die Anwesenheit eines Neuankömmlings zu kommentieren.
Leider wollte Mike diese schöne Stimmung zerstören, indem er einmal mehr zu einer mehr als höflichen Begrüßung ansetzte. Das konnte Calvin nicht zulassen. Noch bevor Mike auch nur ein Wort aus seinem Mund brachte, schob er sich vor seinen Kameraden und übernahm das Kommando.
„Wir bräuchten ein Zimmer für zwei Personen und einen Platz, wo wir unsere Pferde und Karren abladen können.“, richtete sich Calvin ohne Umschweife an den Portier. Dieser sah ihn daraufhin nicht einmal an, sondern erwiderte ebenso direkt:
„Eine Straße weiter haben wir einen Platz, wo Sie ihre Sachen unterbringen können. Schlüssel dafür bekommen Sie bei mir. Ein Zimmer mit zwei Betten kostet zwei Dollar.“
„Gut. Dann machen wir fünf Dollar daraus und wir bekommen ein Zimmer, in dem man den Vorbesitzer nicht mehr riechen kann.“
„Kein Problem.“
Der Portier verschwand für einige Momente unter seiner Theke, eher er mit zwei Schlüsseln wieder hervorkam.
„Der Große hier ist für unseren Stall und der Kleine für Ihr Zimmer. Zimmer 205. Zweiter Stock, rechter Flügel, mittig gelegen. Ist nicht zu verfehlen.“
So wechselten die fünf Dollar zügig ihren Besitzer. Calvin selber musste zugeben, dass das für ein Zimmer in dieser Gegend viel zu viel war, aber wenn man dafür gut schlafen konnte, zahlte er gerne diesen Preis. Wobei er sich darüber keine Sorgen machte. Nach einem solchen Pokerspiel fühlte er sich stets so ausgelaugt und glücklich, dass er auch ohne Probleme am Boden hätte schlafen können. Deshalb war er Mike auch unendlich dankbar, als sich dieser anbot die Pferde und ihre Sachen zu verstauen, während er sich auf die Suche nach ihrem Zimmer begab.
Von einer Suche konnte jedoch kaum die Rede sein. Der Treppe, die neben der Theke des Portiers nach oben führte, folgte er in den zweiten Stocken, entschied sich bei der Wahl des richtigen Ganges für den Rechten und ehe er sich versah stand er bereits vor Zimmer 205. Trotz der Dunkelheit, die zu dieser späten Stunde herrschte, sah man die eingravierten Zahlen auf dem goldenen Plättchen. Das lag vor allem an dem Mondlicht, das den Gang von der Hofseite her flutete. Es war Calvin ein Rätsel, wieso man so viele Fenster einbauen würde. Sechzehn um genau zu sein. Sechzehn Fenster für sieben Räume, die in diesem Gang lagen. Er konnte bei so etwas nur den Kopf schütteln.
Dann kam der große Augenblick. Jetzt würde er gleich wissen, ob sich die die zusätzlichen drei Dollar ausgezahlt hatten. Die Tür ging bereits ohne Probleme auf, wie Calvin sie aufsperrte. Sie machte keinen Laut! So etwas durfte Calvin schon lange nicht mehr erleben. Bei seiner Hütte verlor man sein Gehör bei dem lauten Kreischen. Zu Calvins Überraschung war auch ihr Raum sehr reinlich und komfortabel und das nicht nur für die hiesigen Verhältnisse. Das Zimmer konnte sogar Schritt mit Establishments weiter östlich halten. Wenigstens mit denen, die Calvin im Laufe seines Lebens besucht hatte. Der Boden war gekehrt, die Leintücher und Vorhänge frisch gewaschen und auch auf Schränken, Tisch und Stühlen konnte man reinen Fingers darüber fahren, ohne ein Krümel Staub zu entdecken. Das passte allerdings auch zur Einrichtung, denn Calvin nahm stark an, in das Zimmer einer alten Dame eingedrungen zu sein. Nicht nur die Zierdeckchen, die überall verstreut lagen, erweckten diesen Eindruck, sondern auch das restliche Mobiliar. Die beiden Betten, die zur Straße hin unter zwei dazu passenden Fenster standen, beleidigten Calvins Augen mit einem zartrosa Blümchenmuster. Auch die Armsessel, die neben der Tür, um einen Kaffeetisch herum standen, wiesen ein ähnliches Muster auf, auch wenn es sich dabei um eine moosgrüne Variante handelte. Allerdings konnte er sich beim besten Willen nicht entscheiden, was nun schlimmer aussah. Wenigstens der Wandschrank bewies mit seiner klassisch hellbraunen Maserung etwas Stil.
Jeglicher Groll verflog jedoch in Windeseile, wie sich Calvin in eines der Betten fallen ließ. Womöglich fühlte es sich auch nur so an, weil er die letzten Wochen entweder auf dem Boden oder einer Strohmatratze schlafen musste, aber er war der festen Überzeugung auf einer Wolke zu liegen. Genau dieses wohlige Gefühl bewirkte auch, dass plötzlich jegliche Restenergie aus seinem Körper verschwunden war und er nicht einmal mehr seine Stiefel ausziehen konnte. Es gab nur noch ihn und die Matratze. Der Rest interessierte ihn nicht mehr.
Leider gab es da noch Mike. Wie ein Grobian stürzte auch er eine halbe Stunde später in das Zimmer hinein und zerstörte damit jegliche Intimität zwischen Calvin und seinem Bett.
 

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[Meine letzte Prüfung ist vorbei. Jetzt sollte es hier wieder regelmäßiger weitergehen.]


„Es gibt hier auch Leute, die schlafen wollen.“, murrte er in die Matratze hinein.
„Gib einen Frieden! Ich habe alleine unsere Sachen verstaut.“
Da merkte er erst, wie schlimm es bereits um ihn stand. Es fiel ihm keine ordentliche Antwort darauf ein. Allerdings wäre es vergebens gewesen, wenn doch, denn auch Mike ließ sich auf sein Bett fallen und machte keine Anstalten mehr, etwas sagen zu wollen. Irgendetwas fühlte sich dennoch falsch an. Beide wälzten sich ungeduldig in ihren Betten herum, aber keiner von ihnen konnte einschlafen.
„Wie kann ein Mond nur so verdammt hell leuchten?“, brummte Mike auf dem anderen Bett.
„Was weiß ich? Mach mal die Vorhänge zu. Das ist ja nicht zum Aushalten.“
Tatsächlich leuchtete der Vollmond direkt durch die Fenster auf sie herunter. Wer hätte schon mit so einem Licht im Gesicht einschlafen können? Leider musste Calvin schnell feststellen, dass Mike keinerlei Anstalten machte selber aufzustehen. So blieb es an ihm selber diese Herkulesaufgabe zu bewältigen. Jede Faser seines Körpers schien sich zu wehren, wie er sich langsam aufrichtete und auf die Bettkante setzte und doch schaffte er es. Zu diesem Zeitpunkt dachte er bereits das Schlimmste überstanden zu haben, aber leider irrte er sich da dabei. So richtig zu spüren bekam er es erst, wie er versuchte aus seiner sitzenden Position aufzustehen. Wie konnte es nur möglich sein, dass er sich so schwer fühlte? Er hätte schwören können, dass er mindestens das Dreifache wog, wie er vergeblich versuchte seine Beine durchzudrücken. Es ähnelte einem Weltwunder, wie er es endlich schaffte auf beiden Beinen zu stehen. Ja, er ging etwas wackelig. Ja, ihm war schwindelig, aber er stand! Und nichts – NICHTS – fühlte sich besser an, als der Moment, als er die Vorhänge zuzog und sich wieder in sein Bett fallen ließ. Dieser Moment entlohnte ihn für seine Mühen, ehe auch bei ihm die Lichter ausgingen.

Wie kann das nur sein?, dachte sich Calvin verzweifelt, wie er das nächste Mal die Augen aufmachte. Das Bett war doch so gemütlich. Wieso musste sich der ekelhafte Whiskey also ausgerechnet um drei Uhr in der Früh dafür entscheiden, dass er endlich wieder hinaus wollte? Anfangs versuchte er diesen Druck zu ignorieren. Er wünschte sich sehnlichst wieder einzuschlafen und erst am nächsten Tag in der Früh zu gehen, doch egal wie sehr er sich herumwälzte und seine Augenlider zusammenpresste, der Drang hielt ihn wach.
Nach einer viertel Stunde gab er den hoffnungslosen Kampf endgültig auf. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass er mitten in der Nacht aufwachte, kam auch noch eine erschreckende Erkenntnis auf ihn zu. Diese Herberge besaß keine Nachttöpfe! Er stand vor dem geöffneten Schrank und wühlte verzweifelt darin herum, doch es fehlte jede Spur davon.
Ich wusste, mit dieser Herberge ist etwas faul! Wer hat schon Zimmer ohne Nachttöpfe?, ärgerte sich Calvin. Es musste ein Plan B her. Das Fenster. Anfangs überlegte er sich noch, ob es keine schlechte Idee wäre, eines der Nachtlichter zu entzünden. Dank der zugezogenen Vorhänge war es schließlich beinahe finster. Doch die alte Bequemlichkeit ließ ihn davon absehen. Spätestens nach der dritten Bettkante, die sein Schienbein malträtierte, verfluchte er sich jedoch selber für seine Faulheit. Und diese Betten! Diese verdammt gemütlichen, potthässlichen Betten verfluchte er auch gleich mit.
Allerdings hatte er es beinahe geschafft. Die Fenster hoben sich deutlich heller von ihrer Umgebung ab und Calvin sah, dass ihn nur noch ein paar vorsichtige Schritte von einem der beiden entfernte. Da hörte er etwas.
Calvin hielt inne. Vielleicht hatte er sich ja nur geirrt. Wer würde schon auf die Idee kommen, um diese Uhrzeit durch die Gänge zu geistern? Aber dieses Mal konnte er es unmöglich abstreiten. Er wusste ganz genau, dass jemand die Tür zu ihrem Gang geöffnet hatte. Schließlich hatte er sich, gerade erst vor ein paar Stunden, gewundert, wie eine Tür nur solch komische Geräusche machen konnte. Dieses eigenartige Quietschen konnte nur von dieser einen Tür stammen.
Der Druck auf seiner Blase schien auf einmal verschwunden zu sein, verdrängt von einem viel größeren Drang. Im Gegensatz zu vorher schlich er nun auf Zehenspitzen durch den Raum und näherte sich langsam der eigenen Zimmertür. Mit einem Ohr an die Tür gepresst lauschte er der nächtlichen Ruhe. Dabei wusste er nicht einmal, worauf er eigentlich wartete. Würden jeden Augenblick Schritte zu hören sein oder gar Stimmen?
Das angestrengte Lauschen verlangsamte die Zeit, wie es Calvin nie für möglich hielt. Oder kam es doch von der Anspannung? Egal was diesen Effekt verursachte, es war eine Folter. Die paar Minuten, die Calvin vor seiner Tür stand, fühlten sich wie Stunden an. Stunden in denen sich sein Verstand einmal mehr die wildesten Ereignisse ausmalte und noch verrücktere Pläne dafür erfand. Doch dem konnte nicht geholfen werden. So reagierte er nun mal in Stresssituationen. War er deswegen unglücklich, als er kein metallenes Klicken vor der Tür hörte und sich damit nicht auf den Boden werfen musste, um den Kugeln, die über ihm durch die Tür barsten, zu entkommen? Nein, im Gegenteil. Dass er jedoch nur Schritte am Ende des Ganges hörte, empfand er als etwas langweilig. Es verstand sich allerdings von selbst, dass er sich auch dafür einen Plan ausgedacht hatte. In dem Fall würde er weiterhin abwarten und lauschen.
Anfangs waren die nächtlichen Störenfriede noch leise und kaum wahrnehmbar. Calvin wusste bereits auf Anhieb, dass es sich um mindestens zwei Personen handeln musste, so unregelmäßig wie man die Schritte auf den Dielen hörte. Es war jedoch eine andere Erkenntnis, die ihn überraschte. In Wirklichkeit wunderte er sich darüber, seit wann er wieder solche Kleinigkeiten wahrnahm? Es war ihm anfangs entgangen, aber sein Körper schien instinktiv auf die Situation zu reagieren. Sein Gehör mochte ein Anzeichen dafür sein, doch damit hörte es noch lange nicht auf. Er bemerkte erst jetzt, wie er bereits die ganze Zeit langsamer atmete und dann auch nur durch den Mund, als wolle er so wenig Geräusche wie möglich erzeugen. Sein ganzer Körper stand auch unter Spannung. Wie eine metallene Feder, die zusammengedrückt jeden Augenblick ihre Kraft und Geschwindigkeit abgeben könnte. Gleichzeitig stand er so regungslos an die Tür geschmiegt, dass er beim besten Willen nicht mehr sagen konnte, wo er aufhörte und die Tür anfing. Alles in allem, ein sehr seltsames Gefühl, das er seit Jahren nicht mehr spüren durfte, seitdem er beschlossen hatte, sich vom offenen Verbrechen zurückzuziehen und alles aus dem Hintergrund zu lenken.
Von all dem bekamen die unbekannten Männer auf der anderen Seite der Tür natürlich keinen Deut mit. Dafür bemerkte Calvin sehr wohl, wie ihre Schritte immer lauter wurden. Sie kamen eindeutig näher. Allerdings verschwanden die Geräusche nach ein paar Schritten wieder. Als Calvin das Öffnen der ersten Zimmertüre hörte, hegte er bereits die Hoffnung, dass es sich doch nur um ein paar normale Gäste handelte. Die Tür schloss sich und es kehrte erneut Stille ein.
Nach einigen Sekunden setzten jedoch wieder die Schritte ein und man hörte, wie sie immer lauter werdend den Gang entlang wanderten. Das Spiel setzte sich auch bei den nächsten Türen fort. Die Unbekannten näherten sich, öffneten das Zimmer – oder auch nicht, falls der Besitzer vorsichtig genug war, um abzusperren – und schienen unbefriedigt weiter zu ziehen. Und mit jeder Tür wurde Calvin mehr und mehr bewusst, dass sie es auch bald bei ihm probieren würden. Erneut musste dringend ein Plan her und dieses Mal ging es um mehr, als nur für eine erfundene Situation. Genau in diesem Moment beschloss Calvins Gehirn auszusetzen. Das eine Mal, als er tatsächlich eine verrückte Idee gebraucht hätte, fiel ihm nichts anderes ein als stehen zu bleiben und abzuwarten.
Noch zwei Türen, zählte Calvin innerlich. Nur noch eine!
Nicht, dass es etwas bringen würde, wenn sie seine Tür aufschwingen und ihn dort lauschend stehen sehen. Dann kamen sie. Bei den letzten Schritten fühlte es sich an, als würde sich Calvins Herz verabschieden wollen. Als wolle es direkt durch seine Brust in die Freiheit gelangen. Wie einer der Fremden bereits seine Hand auf die Schnalle legte, dachte Calvin noch darüber nach, ob er die Tür schnell zudrücken sollte. Er überlegte, wie sich die Schnalle zu bewegen begann und auch wie sie ganz nach unten gedrückt wurde. Ja, er überlegte sogar noch, wie die Person auf der anderen Seite die Tür endgültig aufdrückte.
 

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KLICK! Selten brauchte Calvin so lange, um zu begreifen, was gerade geschehen war, wie in diesem Augenblick. Er hatte das metallische Klicken ganz genau gehört. Nicht jenes, für das sein Gehirn idiotische Pläne entwickelt hatte, sondern eines, das von der Tür stammte. Das liebliche Geräusch, wenn man versuchte eine verschlossene Tür zu öffnen, ohne sie vorher aufzusperren.
Die Männer vor der Tür begaben sich auf den Weg zur Nächsten, doch da hatte Calvin bereits das Interesse verloren. Stattdessen dankte er der Tür und der Schnalle und am meisten dem Schloss, das die beiden Unbekannten aufgehalten hatte. Wie er auch begann einem Gott zu danken, an den er seit Jahren nicht mehr glaubte, drängte sich ihm jedoch eine Frage auf. Wieso war bei ihnen überhaupt zugesperrt? Hatte Mike sie etwa abgeschlossen? Und wenn ja, wann und wieso? Wollte er etwa gar verhindern, dass sich Calvin still und heimlich davon machte?
Es überraschte ihn, wie sehr ihn der Gedanke doch verletzte. Die beiden kamen in letzter Zeit so gut miteinander aus, dass er bereits dachte über solche Kindereien hinweg zu sein. Leider hatte er sich da anscheinend geirrt. Gleichzeitig musste er dafür dankbar sein, dass die Unbekannten nicht einfach so in ihr Zimmer eindringen konnten.
Seine Gefühlschaos wurde jedoch jäh unterbrochen. Während er angestrengt über die Frage der verschlossenen Tür nachgedacht hatte, entspannte sich sein restlicher Körper und bekam plötzlich wieder mit, weshalb er in erster Linie aufgewacht war. Er rannte zum Fenster. Ja, rannte. Ihn kümmerte es jetzt nicht mehr, ob er sich an irgendetwas stieß oder gar hinfallen würde. Er wusste nur, dass er sich gleich eine neue Hose besorgen müsste, falls er nicht sofort zu einem Fenster kam. Mit Müh und Not konnte er sich diese Peinlichkeit dann doch ersparen. Im letzten Moment schaffte er es ein Fenster aufzureißen und seine Hose zu öffnen, ehe sich die Natur ihren Weg bahnte.
Die kühle Abendluft passte hervorragend zu diesem Augenblick, als ein Plätschern die Stille der Nacht durchbrach. Calvin musste zugeben, dass er falsch gelegen hatte. Das fühlte sich besser an, als alles andere in der Welt!
Das Komische an solchen Momenten ist, dass man plötzlich alles Negative um einen herum vergisst. Was interessierte ihn in so einer Nacht schon, ob sich ein paar Männer am Gang herumgetrieben hatten oder wieso Mike so paranoid war, um ihre Zimmertür abzuschließen? Alles nebensächlich.
Allerdings gab es Szenarien, in denen es von Vorteil sein konnte, wenn man sich weiterhin Gedanken machte. Ansonsten wäre Calvin wohl schon viel früher auf die Idee gekommen, dass die beiden Männer irgendwann aus der Herberge kommen mussten. Zum Glück hatte er seine Notdurft bereits verrichtet, wie er unten bei der Straße die Eingangstür auffliegen hörte. Ansonsten wäre ihm wohl keine Zeit mehr geblieben zurückzuspringen und die Vorhänge zuzuziehen, ehe die Männer unter der Veranda der Herberge hervortraten. Einen Moment lang machte sich Calvin Sorgen, denn sein Fenster stand noch immer offen. Allerdings beruhigte er sich, wie die beiden Unbekannten ihr Gespräch ungestört fortsetzten.
„Steck mich in eine Klapse!“, kam es von einem der Männer.
„Was ist denn los?“, fragte daraufhin der andere.
„Ich glaube, es beginnt zu regnen.“
„Zu regnen?! Ist das dein Ernst? Ich habe selten eine so schlimme Trockenheit erlebt und du willst mir etwas von Regen erzählen?“
„Das denke ich mir auch, aber ich könnte schwören, dass mich gerade ein paar Tropfen erwischt haben.“
„Was weiß ich, was dein sonnenverbranntes Gehirn dir da schon wieder vorgaukelt. Schauen wir lieber, dass wir schnell weg kommen, bevor uns jemand sieht.“
„Zu blöd, dass die ganze Sache umsonst war.“
„Ja. Bist du dir auch wirklich sicher, dass du gesehen hast, wie der andere ihre Sachen in den Stall gebracht hat?“
„Ja, ganz sicher. Zuerst sind sie zu zweit rein und dann ist der andere nochmal raus.“
„Dann werden sie wohl eines der verschlossenen Zimmer gehabt haben.“
„Hätten es uns fast denken sollen, dass es nicht so einfach sein würde, sie im Schlaf zu überraschen. Schauen wir eben morgen weiter, wie wir diesen Typen am besten schnappen.“
„Ja! Und wenn uns der andere noch einmal in den Weg kommt, dann schaffen wir den eben...“
Mehr konnte Calvin nicht vernehmen, nachdem sie zwischen den nächsten Häuserreihen verschwunden waren. Vielleicht war es auch besser so, denn Calvin wusste nicht, wie viel er noch hätte hören wollen. Sein Herz sprang ihm auch so schon wieder zu wild in seiner Brust herum.
Also hatte er es sich doch nicht eingebildet. Er wurde als doch verfolgt und hatte sich zu Mittag in Gefahr befunden. Nun war er endlich davon überzeugt, denn welches Duo könnten sie sonst meinen, wenn nicht Mike und ihn?
Sie sagten auch, dass sie es morgen wieder versuchen würden, wiederholte Calvin das gerade eben Gehörte. Bis jetzt schienen sie von Mikes Anwesenheit aufgehalten worden zu sein, aber davon wollten sie sich wohl in Zukunft nicht mehr abschrecken lassen. In diesem Fall gab es für Calvin und natürlich auch für Mike nur noch einen Ausweg. Die Flucht.

[Ende Kapitel 3]
 

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Kapitel 4: Die Vergangenheit holt auf

Es ärgerte Mike. Wieso konnte er sich eigentlich nie an seine schönen Träume erinnern, sobald er aufwachte? Es war zum Verzweifeln! Er wusste, dass er von einer unheimlich schönen Situation geträumt hatte. Ja, er fühlte sogar noch diese Geborgenheit und Freude nachklingen. Aber er konnte einfach nicht sagen, was in dem Traum nun wirklich passiert war und wenn sein Leben davon abhinge. Dabei hätte er gerade jetzt etwas Aufheiterung gebrauchen können, wie sie durch die kühle Nacht rasten.
Wobei man rasen vielleicht nicht wörtlich nehmen sollte. Sie fuhren so schnell, wie man es mit einem Karren und zwei Pferden, wovon eines halb verhungert aussah, eben schaffte. Aber es machte keinen Unterschied, ob sie nun in einem schnellen Trab vorwärts kamen oder galoppierten. Das Adrenalin pumpte dennoch unaufhörlich durch Mikes Adern. Eine Flucht setzte einen nun einmal unter Druck, egal wie langsam oder schnell man vorwärts kam. Wenigstens musste sich Mike keine Sorgen darüber machen, wieder einzuschlafen. Die Müdigkeit hatte seinen Körper schlagartig verlassen, wie Calvin ihn vor gut einer Stunde aus dem Schlaf gerissen und ihm die ganze Geschichte erzählt hatte. Seitdem konnte man sagen, dass Mike einfach funktionierte. Nur so befanden sie sich jetzt in der günstigen Lage, noch mindestens anderthalb Stunden vor Sonnenaufgang, eine schöne Strecke zwischen sich und Ronstown gebracht zu haben. Zusammen mit der Zeit, die die Unbekannten benötigen würden, bis sie ihr Verschwinden bemerkten und ihre Spuren fanden, verschaffte ihnen das einen guten Zeitpolster.
Den wollte Mike allerdings auch gut nutzen. Momentan steuerte er nicht den Außenposten an, denn durch die tiefen Spuren, die der Wagen hinterließ, würden sie die Fremden nur direkt zu ihnen lotsen. Stattdessen folgte Mike den Planwagenspuren, die in Hülle und Fülle von Ronstown Richtung Westen verliefen. Er wollte sich so lange wie möglich an diese Fährten halten, bis ihm ein geeignetes Gelände erlauben würde unbemerkt abzuschwenken. Ein steiniger Untergrund oder wenigstens ein festeres Erdwerk wäre wünschenswert. Momentan blieb ihm allerdings nichts anderes übrig als stur geradeaus zu fahren.
Wie kann man nur so dumm sein?, kam es Mike in den Sinn, wie er den monotonen Schritten der Tier lauschte. Ich hab doch gewusst, dass Calvin viele Feinde hat. Wieso bin ich nie auf die Idee gekommen, dass so etwas passieren könnte? Da hab ich mir etwas eingebrockt. All meine Freunde verlassen sich auf mich! Ich habe ihnen versprochen, dass Calvin den Außenposten nicht verlassen würde und wenn dann nur unter meiner Aufsicht.
Diesem Versprechen war Mike bisher treu geblieben und hatte es auch weiterhin vor. Allerdings war er nie auf die Idee gekommen, dass auf einmal Leute kommen würden, um Calvin dingfest zu machen. Sollte er es etwa einfach zulassen, dass diese Männer Calvin mitnahmen?
Zugegeben, Calvin ist lange Zeit sein Erzfeind gewesen und ihr Zusammenleben stand anfangs unter keinem guten Stern, nachdem er beinahe von Calvin umgebracht worden war. Aber seit dem Ende ihres monatelangen Katz und Maus Spiels war so viel Zeit vergangen und Mike wusste nun, dass mehr in Calvin steckte, als ein typischer Krimineller. Er durfte ihn als fleißigen Arbeiter kennenlernen, als jemanden, der seine schwachen Momente hätte ausnützen können und es doch nicht tat. Jemand, der sogar in seiner dunkelsten Stunde für ihn da war. Wie konnte er einen solchen Mann verraten?
Was sollte er allerdings stattdessen tun? Sich einfach den Fremden in den Weg stellen und sie notfalls über den Haufen schießen? Machte ihn das nicht schlichtweg zum Mörder? Nein, diese Option klang ebenso unmöglich.

Ihr Weg führte sie in der Nacht und auch am Tag darauf stets in westliche Richtung, obwohl der Außenposten nordwestlich von Ronstown lag. Mike wollte schon längst nach Norden abbiegen, doch es ließ sich einfach kein geeigneter Untergrund finden. Egal wie lange sie weiter fuhren, unter ihren Rädern befand sich immer die selbe lockere Erde, in der die Räder tiefe Furchen hinterließen. Das änderte sich jedoch schlagartig, als sie sich den Ausläufern des Colorado Rivers näherten. Die trockene Erde verschwand und machte einer weitreichenden Graslandschaft Platz. Mike wusste, dass er so schnell keine bessere Chance bekommen würde. Die Gräser konnten unter Umständen ihren Weg verbergen. Die Halme mussten nur Zeit genug haben, um sich aufzurichten, ehe die Unbekannten an diese Stelle kamen. Diese Chance genügte Mike und selbst wenn nicht, so hätte er im Endeffekt keine andere Wahl gehabt. Sie schwenkten den Wagen und setzten ihren Weg nunmehr in nördlicher Richtung fort. Auch, wenn ihnen dieser Umweg einen weiteren Tag kosten würde, war Mike dennoch davon überzeugt, dass es sich am Ende auszahlte.
Doch erst, wie der Außenposten am Horizont vor ihnen auftauchte, spürte er ein Gefühl der Sicherheit in sich hochsteigen. Egal was auch kommen mochte, dies war sein Werk, sein Zuhause und es gab nichts, was er hier nicht bewältigen könnte! Endlich fiel auch die Anspannung von ihm ab, die er bereits die letzten viert Tage mit sich herum schleppte. Er fühlte sich so befreit und erleichtert, dass ihm in dieser Nacht etwas gelingen sollte, was ihm in den letzten Tagen verwehrt geblieben war. Schlaf. Mike wusste nicht, wann er sich das letzte Mal am Nachmittag schlafen gelegt hatte, um dann erst am nächsten Tag in der Früh aufzuwachen, aber genau das tat er an diesem Tag.
Nicht, dass es Calvin anders ergangen wäre. Auch diesen hatte die Flucht derart ausgezehrt, dass er sich zwölf Stunden Schlaf in dieser Nach nicht nehmen ließ. Allerdings schaffte er es noch genug Energie aufzubringen, um sich um die Pferde zu kümmern, ehe er sich ebenfalls hinlegte. Alleine dafür war ihm Mike unendlich dankbar, genauso wie die Tiere.
Diese hatten sich nämlich von allen am meisten eine Pause verdient. Nach diesem langen, unermüdlichen Ritt musste sich Mikes Hengst dringend wieder erholen. Was Mike sich hingegen nicht erklären konnte, war Calvins Stute. Wie schaffte es ein solches Gerippe eine derartige Anstrengung zu überleben? Und noch wichtiger, wie zum Teufel machte es nach diesen vier Tagen einen energetischeren Eindruck, als Mikes Brauner? Er machte sich keine Sorgen um sein Pferd, aber wundern musste er sich dennoch.
Diese eine Nacht reichte zum Glück, um Mikes Reserven wieder voll aufzuladen. Auch all die Probleme und Sorgen der letzten Tage schienen wie weggeblasen. Das lag vielleicht auch daran, dass er sich bereits am nächsten Tag wieder seiner Arbeit widmen konnte. Wie immer half nichts besser gegen zu angestrengtes Denken.
Mit dem neuen Material und dieser unbändigen Motivation verfiel Mike wieder in seinen alten Rhythmus. Seine Tage bestanden einmal mehr nur aus essen, schlafen und arbeiten. Für diesen Lebensstil war er gemacht. Eigentlich wünschte er sich sogar noch mehr zu tun, denn das letzte Viertel des Zaunes stand im Nu.
Ehe sie sich versahen waren bereits weitere vier Tage vergangen und den Außenposten umgab, wie in alten Zeiten, ein Zaun. Nun konnte man nur noch durch ein Tor im Osten Zutritt zum Gelände erlangen, außer man fühlte sich zu faul und kletterte einfach an einer beliebigen Stelle darüber. Denn auch, wenn der Zaun einen wertvollen, symbolischen Wert besaß, ging er einem erwachsenen Mann doch nur bis zur Brust. Allerdings ging es bei diesem Projekt ja nie um den Schutz des Außenpostens. Mikes Ziel war dieses nostalgische Gefühl, welches ihn erfüllte, wie er nach getaner Arbeit sein Werk betrachtete. Endlich fühlte er sich wieder wie der Herr seines eigenen Grund und Bodens.
 

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Es sollte Mike noch oft beschäftigen, was ihn in diesem Moment dazu bewegte sich umzudrehen. Womöglich wollte er die Stimmung vollends auskosten, indem er seinen Blick über die Umgebung schweifen ließ oder war es doch nur Zufall? Er konnte es selber nicht sagen. Allerdings spielte es auch keine Rolle, denn am Ende zählte nur, dass er sich vom Außenposten abwandte und dass er dem Horizont entgegen blickte. Denn nur so konnte er sehen, wie sie sich näherten. Zwei Punkte. Zwei einsame Flecken, vom Osten her kommend, die ausreichten, um Mikes Glücksgefühle wie vom Winde verwehen zu lassen. Sein Verstand wusste, dass es sich dabei nur um die beiden Fremden aus Ronstown handeln konnte. Aber etwas in ihm wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Etwas, das wusste, dass etwas nicht stimmte.
„Wieso kommen sie vom Osten?“, murmelte er zu sich selbst, wie es ihm langsam bewusst wurde. Das war es, was nicht stimmte. Wieso kamen die Punkte vom Osten her? Wären das die Unbekannten aus Ronstown, dann müssten sie doch vom Süden her kommen.
„Calvin? Calvin!“, rief er seinen Kumpanen herbei, der gerade eine Trinkpause beim Teich eingelegt hatte.
„Was ist denn jetzt schon wieder? Ich dachte wir würden uns den restlichen Tag frei nehmen.“
„Wir bekommen Besuch.“
„W-Was?“
Man sah, wie die Worte das Blut aus Calvins Kopf auf magische Art verschwinden ließen. Sie hinterließen einen Calvin, der so weiß war, dass er im direkten Sonnenlicht richtiggehend blendete. Alleine die Tatsache, dass es ihm die Stimme verschlug, machte deutlich, dass er die beiden ebenfalls für ihre Verfolger hielt.
„Komm schon, Calvin. Schau mich nicht so an. Vielleicht sind sie es gar nicht!“, versuchte Mike sein Gegenüber zu ermuntern.
„Ach, red' doch keinen Blödsinn. Sie müssen es sein! Wie viele unerwartete Gäste bekommen wir sonst hier?“
„Aber schau mal, von woher sie kommen. Aus dem Osten! Müssten die beiden nicht vom Süden her kommen, wenn sie unserer Spur folgen?“
„I-Ich denke schon.“
„Siehst du! Ich sag dir, das wird schon gut ausgehen. Wir machen es wie geplant. Du versteckst dich in der Materialhütte und lässt mich mit den beiden reden.“
„Und du erzählst ihnen, dass ich dich nur vorübergehend begleitet habe und von hier aus alleine Richtung Westen bin. Ja, ich kenne den Plan.“
„Gut. Dann verschwinde endlich, bevor sie dich noch sehen!“
Generell konnte man Reiter früher erkennen, als normale Fußgänger. Da aber weder Calvin noch Mike ein Risiko eingehen wollten, versteckte sich Calvin bereits frühzeitig. Er würde erst hinauskommen, wenn Mike ihm ein Zeichen gab.
So blieb nur noch Mike zurück. Gespielt gelassen lehnte er sich gegen seinen eben erst vollendeten Zaun und beobachtete die Punkte, wie sie langsam immer größer wurden. Er spürte, wie er innerlich angespannt war. Dabei handelte es sich hier nicht um das erste Mal, dass er Opfer einer Verfolgung wurde oder sich gefährlichen Individuen gegenüber wiederfand. Von all dem konnte er bereits ein Lied singen. Wirklich unangenehm machte die Situation erst, dass es dieses Mal nicht um ihn ging. Die Unbekannten aus Ronstown interessierten sich ja gar nicht für ihn, sondern nur für Calvin. Außerdem hatten die Männer bestimmt einen triftigen Grund hinter dem einstigen Kriminellen her zu sein.
Wie er auf die Ankunft der beiden erwartete, konnte man beobachten, wie die Punkte allmählich zu Formen mit einer eigenen Kontur wurden. Von da an dauerte es auch nicht mehr lange, bis man die Farben ihrer Gewänder erkannte und ehe man sich versah, befanden sich die Fremden bereits in Hörweite.
Mikes Herz begann wie verrückt zu rasen, wie er die beiden Unbekannten aus der Nähe betrachten konnte. Allerdings pochte es nicht vor lauter Nervosität, sondern vor Erleichterung. Es schien ihm ein derart schwerer Stein vom Herzen zu fallen, dass es gleich davonfliegen wollte.
Das sind sie nicht!, wollte Mike bereits laut schreien. Auch wenn es ihm gelang, diesem Verlangen standzuhalten, konnte er doch nicht verhindern, wie ein Idiot zu grinsen.
„Guten Tag, die Herren.“, rief Mike freudig, während er ihnen auf den letzten Schritten entgegen ging. Noch einmal musterte die Fremden, aber er kam zum selben Ergebnis. Niemals im Leben waren das die beiden Männer, die Calvin ihm beschrieben hatte.
Bei ihren Verfolgern handelte es sich angeblich um ein Paar bärtige Männer, deren Haut und Kleidung mitgenommen waren, von der langen Reise in dieser trockenen Gegend. Um Calvins genauen Worte zu zitieren: „Sie schauen wie typische Handlanger aus. Ungepflegt, muskulös und haben so eine gefährliche Aura um sich. Anders gesagt, wenn ich jemanden aufmischen möchte, dann würde ich mit den beiden antanzen.“
Mit den beiden, die nun vor ihm standen, hatte die Beschreibung freilich nichts gemein. Wenn er sich das Bild eines ehrgeizigen Arbeiters vorstellen sollte, dann wären genau diese beiden in seinen Gedanken aufgetaucht. Ihre glatt rasierten Gesichter, die kurzen, streng zurück gekämmten Haare und vor allem ihre Kleidung passte perfekt zu diesem Eindruck. Mit ihren blauen Latzhosen, den weißen Hemden und den grau-brauen Schiebermützen, hätten sie gerade noch ein paar Eisenbahnschienen in der Gegend verlegen können.
„Guten Tag.“, grüßten beide höflich im Einklang zurück, ehe einer der beiden das Wort ergriff.
„Mein Name ist Hermann und mein Begleiter hier heißt Richard. Wir sind gerade auf dem Weg zur Westküste, um Arbeit zu finden. Eigentlich wollten wir in eine Stadt namens Ronstown und unsere Vorräte aufstocken, bevor wir die großen Ebenen durchqueren. Leider bin ich mir ziemlich sicher, dass wir sie bereits verfehlt haben.
Verstehen Sie uns nicht falsch. Wenn wir uns selbst etwas schießen müssten, dann soll das so sein, aber die Gegend schaut nicht gerade aus, als würde man hier viel Wild treffen. Daher wollten wir fragen, ob Sie etwaige Vorräte hätten, die Sie erübrigen könnten. Wir haben auch genug Geld, um gut zu zahlen.“
„Hm. Ich verstehe. Ja, ich sehe da kein Problem. Gerade Trockenfleisch habe ich hier in Unmengen. Kommt einfach mit und sagt, wie viel ihr braucht.“
Sichtlich erleichtert über diese Antwort stiegen die beiden Neuankömmlinge von ihren Pferden ab und folgten Mike, nachdem sie ihre Pferd am Zaun festgebunden hatten.
„Sie werden doch bestimmt die Gegend westlich von hier gut kennen?“, fuhr der Sprecher von vorhin fort.
„Nicht so gut, wie die östlich, aber ich kenne sie leidlich.“
„Gibt es irgendetwas, auf das wir aufpassen müssen?“
„Lass mich nachdenken. Ah! Gerade wegen dem Schießen von Wild sollte man vorsichtig sein. Das hier ist das Stammesgebiet der Muskogee. Die sind Weißen nicht unbedingt feindlich gesinnt, aber ich würde ich es trotzdem nicht herausfordern, indem ich auf deren Grund wildere.“
„Puh! Das ist wirklich eine wichtige Information.“
„Und am besten ihr sucht euch in den nächsten Tagen einen Fluss, dessen Ufer ihr Richtung Westen folgen könnt. Leuten geht hier in der Gegend schnell einmal das Wasser aus, da ist es immer gut nachfüllen zu können.“
„Ja, das klingt logisch. Sonst noch etwas.“
„Hm. Nicht, dass ich wüsste. Wer es so weit Richtung Westen geschafft hat, sollte schließlich die allgemeinen Tipps und Tricks bereits kennen.“
„Immer nur ein kleines Lagerfeuer und nur schießen, wenn es absolut notwendig ist. Haha! Das haben uns schon dutzende Leute vorgebetet.“
„Weil es auch stimmt.“
„Dann bedanke ich mich für die Auskunft. Ich hätte da nur noch eine Frage.“
„Und welche?“
„Haben wir Ronstown wirklich verpasst?“
„Liegt ganze drei Tage Reitstrecke in südöstlicher Richtung.“
„So weit?! Ach, verdammt! Ich werde Richard nie mehr das Kartenlesen überlassen.“
„Hey!“, meldete sich nun auch, sein bisher stiller Begleiter, „Musst du mich bei diesen Sachen immer schlecht dastehen lassen?“
„Schweig, Richard! Es ist deine Schuld, dass wir diesen netten Herren belästigen müssen. Hättest du mir die Karte gegeben, wären wir ohne Probleme nach Ronstown gekommen!“
Der Mann namens Richard schien den Streit vor einem Fremden nicht noch weiter eskalieren lassen zu wollen und kehrte in seinen ursprünglich Zustand der Ruhe zurück. Allerdings sollte er sich nicht mehr lange zurückhalten müssen. Der restliche Aufenthalt der beiden Männer fiel sehr kurz aus. Mike zeigte ihnen in seiner Hütte das Trockenfleisch und verkaufte ihnen so viel, wie sie fähig waren zu tragen und das zu einem ähnlichen Preis, wie sie ihn auch in Ronstown hätten zahlen müssen. Danach verabschiedete sich das Duo und zog gegen Westen weiter.
Mike musste schmunzeln, wie er die beiden fortreiten sah. Wegen den beiden hatten sich Calvin und er all die Sorgen gemacht?
 

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Wenn ich die Axt noch länger so halte, werden meine Hände bald krampfen, wurde Calvin allmählich bewusst. Er mochte noch keine fünf Minuten auf diesem Haufen Bretter sitzen und doch begannen seine Hände zu schmerzen. Allerdings wunderte es ihn nicht. Ein Unbeteiligter hätte wohl glauben können, dass Calvin den Holzgriff zerdrücken wollte, anstatt ihn zu halten.
Die ganze Angelegenheit war ihm peinlich. Wie ein kleines Kind saß er ängstlich in einer Ecke der Hütte und wartete darauf, dass etwas passieren würde. Ach, wie konnte er sich über die Jahre nur so gehen lassen? Er war doch einst Mitglied einer verruchten Bande gewesen. Sein Leben hatte früher nur aus solchen Situationen bestanden. Ständig auf der Flucht und stets dazu bereit jemanden umzubringen, wenn er ihnen auf die Schliche kam. Und jetzt? Dieses Leben unter den Reichen hatte ihn verweichlicht. Jetzt begriff er langsam, wieso sein Ziehvater immer selbst Hand mit anlegen wollte. Es machten auch endlich seine Worte Sinn: „Je weniger du es machst, desto mehr verlierst du das Gefühl dafür.“
Zugegeben, bisher hatte er sich immer darauf verlassen dürfen, dass wenigstens eine Schusswaffe in seiner Reichweite war. Seine Erfahrung mit Hieb- und Stichwaffen konnte man dagegen höchstens dürftig nennen. Als wäre das nicht schon genug gewesen, begann nun tatsächlich auch seine Hand zu verkrampfen. Verbittert gab er es auf, sich die ganze Zeit an die Axt zu klammern und legte sie neben sich hin. Wenn, dann würde er schon rechtzeitig danach greifen.
Die Minuten verstrichen, auch wenn es Calvin kaum mitbekam. Nach kürzester Zeit schien es für ihn unmöglich zu sagen, wie lange er sich bereits in der Materialhütte versteckte. So verging eine Dreiviertelstunde in gefühlt zehn Minuten.
Trotz all dieser Zeit war er dennoch hochkonzentriert. Er reagierte augenblicklich, wie die Tür nach all dieser Zeit zu knarzen begann. Was Mike wohl in dem Moment dachte, als er die Tür aufriss? Schließlich stand ihm auf einmal ein Calvin gegenüber, der ein Beil hoch über seinem Kopf hielt und jederzeit bereit war zuzuschlagen. Mikes Gesicht nach zu urteilen, gingen ihm auf jeden Fall keine guten Gedanken durch den Kopf. Unter anderen Umständen hätte Calvin über diesen dummen Gesichtsausdruck seines Kumpanen gelacht, aber dazu war ihm an diesem Tag wirklich nicht zumute.
„W-Wa...! G-Gib die Axt schon weg! Du kannst wieder raus kommen. Das waren sie nicht.“, bellte Mike ihn an.
„Bist du dir sicher?“, platzte es aus Calvin heraus. Konnte es denn tatsächlich möglich sein? Das würde ja bedeuten, dass sie sie vielleicht doch in der Graslandschaft abgeschüttelt hatten.
„Ja, die beiden sahen nicht mal im Ansatz so aus, wie du sie mir beschrieben hast. Das waren Arbeiter auf der Durchreise und haben nur ein wenig Proviant gebraucht.“
„Auf der Durchreise?“
„Ja. Sie haben sich etwas verirrt und sind zu uns statt nach Ronstown geritten.“
„Aha. Und was dann?“
„Habe ihnen etwas von unserem Trockenfleisch verkauft. Danach sind sie Richtung Westen weiter.“
„Wieso? Wollten sie denn nicht noch nach Ronstown?“
„Scheint nicht so.“
„Beschreib' mir die beiden einmal.“
„Also jetzt mach mal halb lang. Was ist denn los? Wieso die ganze Fragerei?“
„Kommt dir das etwa gar nicht komisch vor? Wie kann man denn den halben Kontinent überqueren und sich dann so schrecklich verlaufen? Die haben Ronstown um drei Tagesstrecken verfehlt! Und wieso sind sie nicht jetzt noch nach Ronstown?“
„Wieso sollten sie? Haben sich doch schon bei uns eingedeckt.“
„Mach dich nicht lächerlich! Wer kauft denn bitte nur Trockenfleisch ein? Davon kannst du doch auf Dauer nicht leben. Ich will gar nicht davon anfangen, dass die beiden nur zu zweit sind. Wie viele „Arbeiter“ reiten denn schon zu zweit an die Westküste? Was ist mit deren Familien? Ihren Besitztümern? Solche Leute siehst du nur in Gemeinschaften durch den Westen ziehen und dann sind jedenfalls ein oder zwei Planwagen dabei.“
„Wir kennen die Umstände der beiden doch gar nicht! Vielleicht sind ihre Familien tot. Vielleicht schulden sie irgendjemanden Geld und mussten schnell weg. Das macht sie vielleicht nicht zu ehrlichen Leuten, aber solange es nicht beiden aus Ronstown sind, ist es mir herzlich egal.“
„Darum geht es mir ja! Kommt dir das Ganze nicht unlogisch vor? Was ist, wenn das eben genau die beiden Männer waren, die sich nur verkleidet haben?“
„Hast du jetzt komplett den Verstand verloren? Ich hab die beiden mit meinen eigenen Augen gesehen. Wenn deine Beschreibung auch nur einen Hauch taugt, dann waren sie das nicht!“
„Deshalb will ich ja, dass du sie mir beschreibst.“
„Na schön! Glatt rasiert. Reine, zarte Haut. Kurzes zurückgekämmtes blondes beziehungsweise braunes Haar. Weiße Hemden. Blaue Latzhosen. Grau-braune Schiebermützen. Reicht dir das?“
„Nein! Jeder kann sich die Haare schneiden lassen und den Bart abrasieren. Nach einem Bad und einer ordentlichen Portion schrubben, wird deine Haut auch sanfter. Und willst du wirklich behaupten, dass sie sich nicht einfach neue Kleidung kaufen konnten?“
„Genug Calvin! Das waren sie nicht! Wenn du willst, dann halte dich die nächsten Tage noch versteckt, aber für mich ist die Sache vorbei.“
„Glaubst du.“
„Hm?“
„Ich kann nicht einfach tatenlos herumsitzen, wenn da draußen zwei Männer sind, die mich vielleicht verfolgen.“
„Und was willst du machen?“
„Ganz einfach. Wir folgen ihnen und belauschen sie. Falls es die Männer aus Ronstown sind, werden sie untereinander ihr wahres Gesicht zeigen.“
„Nein! Das kann ich nicht zulassen. Die beiden sind einfache Arbeiter und ich werde ihnen sicherlich nicht folgen, als wären sie irgendwelche Verbrecher.“
„Dann mache ich es eben alleine.“
„Oho! Ganz bestimmt nicht. Vergiss nicht, weshalb du hier bist. Wenn ich nicht dabei bin, bleibst du hier im Außenposten! Du weißt was ansonsten passiert.“
Calvin verspürte auf einmal das Bedürfnis zu schreien. Wieso wollte Mike nur nicht begreifen, wie wichtig diese Angelegenheit war? Dachte er etwa, dass ihm nichts passieren würde, falls es doch seiner Verfolger waren und sich des Nachts einschleichen würden? Glaubte er, dann eine gute Behandlung erwarten zu dürfen? Calvin handelte hier doch nur im Interesse von ihnen beiden und doch stellte Mike, dieser arrogante Bastard, sich ihm in den Weg.
Ihm reichte es. Er konnte momentan Mikes Gesicht nicht mehr ertragen. Dieses ehrliche Gesicht eines naiven Trottels. Dieses Mal war er es, der sein Gegenüber einfach stehen ließ. Es mochte erst Nachmittag sein, aber das hielt Calvin nicht davon ab in seiner Hütte zu verschwinden und für den restlichen Tag nicht mehr herauszukommen.
Selbst beim Abendessen konnte Mike noch so oft nach ihm rufen, er blieb in seinen vier Wände. Auch die Sonne ging ein wenig später unter, ohne dass es Calvin mitbekommen hätte. Am Ende legte sich sogar Mike schlafen, ohne seinen Kumpanen zu Gesicht bekommen zu haben. Erst eine Stunde nach Mitternacht, als bereits alles schlief, machte Calvin vorsichtig seine Tür auf und spähte nach draußen. Alles schien ruhig zu sein. Damit konnte er sich endlich aus seiner Hütte wagen und das tun, wofür Mike eindeutig zu feig war. Calvin musste einfach erfahren, was es mit diesen beiden Männern auf sich hatte. Wie konnte er ruhig schlafen, wenn da draußen vielleicht seine zwei Verfolger lagerten? Die Geschichte der „Arbeiter“ stank zum Himmel und er würde es beweisen. Nicht nur sich selber, sondern vor allem Mike. Aber noch wichtiger war, dass er dann endlich das Überraschungsmoment auf seiner Seite hätte. Sobald er Mike den Beweis bringen würde, dass es tatsächlich die Männer aus Ronstown waren, könnten sie sich endlich gemeinsam um die Gefahr kümmern. Zusammen sollte es ihnen gelingen, die beiden Männer zu überwältigen.
Calvin hatte lange darüber nachgedacht, wie weit er in dieser Nacht gehen würde, wenn es sich um die beiden Unbekannten handelte. Am Ende entschied er sich jedoch dagegen, sie sofort zu konfrontieren, sondern wollte es beim Belauschen bleiben lassen. Wenn es wirklich das Duo war, dann würde sich Calvin zwei erfahrenen Männern gegenüber wiederfinden und das ohne eine Schusswaffe. Dieses Risiko wollte er beim besten Willen nicht eingehen. Dass er dennoch die Handaxt aus der Materialhütte mitnahm, war lediglich eine Vorsichtsmaßnahme, kein Wunsch nach Konfrontation.
 
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