22:17 Uhr
Diese Geschichte wird euch gefallen und fesseln, oh ja, die Sache mit der Kutsche und dem Medaillon. Das war vielleicht etwas... aber der Reihe nach.
Es begann, als ich vor einigen Jahren in einer kleinen Siedlung rastete. Fragt mich nicht nach dem Namen oder ob sie noch existiert, sie war wirklich klein, nur ein paar Häuser und Läden, eine Bank und der Saloon, in dem es auch einige Zimmer für Reisende gab. Reisende wie mich – erschöpft von einem langen Ritt, mit frisch und ehrlich verdientem Geld im Gürtel und einem gewaltigen Verlangen nach – einem heißen Bad.
Ich mietete mich also im ersten Stock mit Blick zur Hauptstraße ein und genoss die wohlige Wärme im Waschzuber, doch gerade, als ich mich umfassend eingeseift hatte, konnte ich Lärm von der bis eben stillen Straße hören. Ein Gewirr verschiedener Stimmen, Männer und Frauen, jung und alt, aufgeregt, aber nicht feindselig.
'Sorry Honey, könntest du wohl mal nachsehen, was da los ist?', fragte ich.“
„Moment mal“, brach es aus einem der jungen Männer, die bis eben stumm dem Erzähler gelauscht hatten, heraus. „Mit wem hast du denn da auf einmal geredet? Honey?“
Der Alte sah ihn ruhig an, nahm dann einen Schluck Whiskey, blickte in die Runde und sagte: „Hatte ich vergessen zu erwähnen, dass die schönste Tänzerin des Saloons auch tagsüber fleißig war und mir beim Baden half? Das hat die ganze Prozedur sehr vereinfacht und veredelt. Jedenfalls, dieses Mädchen trat jetzt auf den Balkon und rief nach einer Weile zu mir rein: 'Sieht aus, als ob ein Fremder gekommen ist, aber er ist verletzt. Sie haben ihn gegenüber neben der Tür des Sheriffs an die Wand gelehnt und er scheint etwas sagen zu wollen, während Miss Foster sich die Wunde anschaut. Miss Foster ist die Lehrerin, das weißt du natürlich nicht, Cowboy. Sie haben ihm auch Wasser besorgt... Hoffentlich nicht aus der Tränke vorm Saloon, da ist leider immer viel Unrat drin, vor allem Zähne. Ich sollte ihm einen Whiskey bringen, bin gleich wieder da.'“
Der Erzähler verstummte, leerte sein Glas, strich sich durch den weißen Bart und blickte erwartungsvoll in die Runde. Der Barmann wusste, was jetzt folgen sollte, doch bevor einer der Zuhörer verstand, dass der alte Jebediah einen weiteren Whiskey ausgegeben haben wollte, um weiterzumachen, hatte ein pickliger Jüngling noch eine Nachfrage: „Sheriff? Lehrerin? Sagtest du nicht, die Stadt sei winzig und so weiter? Gab es dort vielleicht auch noch einen Bestatter, von dem du noch nichts gesagt hast? Oder eine Kirche?“
Ein Teil der Schar um Jebediah schien ihm zustimmen zu wollen, andere verdrehten demonstrativ die Augen. Doch der Alte blieb ganz gelassen und sagte: „Das, mein junger Freund, wirst du nur erfahren, wenn du mir noch einen Drink spendierst. Erzählen macht durstig und es wäre übrigens unklug, seine Zeit und Stimme damit zu verschwenden, unwesentliche Details aufzuzählen. Wenn ich einen Grundriss dieser Siedlung, die wirklich keine Stadt war, entwürfe und wiedergäbe, würdet ihr mir dann auch so interessiert zuhören? Ich bezweifle es.“
Es war offensichtlich, dass er für den Moment alle überzeugt hatte, auch wenn seine Wortwahl für leichten Unmut sorgte. Während der Barmann den Whiskey brachte, murrte ein vierschrötiger Kerl mit Blumenkohlohren: „Entwürfe und wiedergäbe? So geschwollen konnte nichmal Miss O'Faulk reden tun. Das war meine Lehrerin, 'nen paar Wochen lang jedenfalls.“
Dann waren alle wieder bereit, Jebediah zuzuhören.
„Ich saß also in meinem Bad und musste mir weiter zusammenreimen, was draußen geschah. Da das nicht gut funktionierte, stieg ich notgedrungen aus dem Bottich und ging selbst auf den Balkon. Durch den Seifenschaum konnte ich einen Blick auf den Fremden werfen und erkannte in ihm sofort einen alten Trapper. Eigentlich konnte ich nur eine Biberfellmütze und struppige graue Haare sehen, weil da so ein Gedränge war, aber so sehen alte Trapper halt aus, nicht wahr?
Nun, am Abend saß ich unten im Saloon und dort war ich wahrlich nicht allein. Alle waren da und erzählten sich, was der Trapper erzählt hatte, oder was sie gehört hatten, was er erzählt hätte und tranken und spielten Karten und sahen den Tänzerinnen zu. Nur der Trapper selbst war nicht da und ich merkte, dass die Tänzerin, die mir das Bad eingelassen hatte, erstaunlich oft von der Bühne ging. Also folgte ich ihr und tatsächlich ging sie zum Lederstrumpf, der nämlich im Zimmer neben meinem einquartiert worden war. So kam es, dass ich bald bei ihm saß und – während man sich unten immer abenteuerlichere Versionen erzählte – hörte, was er wirklich zu erzählen hatte. Er erkannte in mir nämlich einen wie sich, einen mit allen Wassern gewaschenen Westmann, der die Prärie wie seine Westentasche kannte und die Berge auch und die Wüste ebenso. Der durch die dichten Wälder an den großen Seen gestreift und im Kanu gepaddelt war, der auf dem Old Man River mit dem schnellsten Schaufelraddampfer westlich des Pecos unterwegs war, am Klondike das größte Goldnugget gefunden und wieder verloren hatte, mit nichts als seinem nackten Leben aus der Kältehölle entkam und wieder ganz unten anfangen musste. Als Reiter auf einer texanischen Rinderfarm, König des Rodeos und geschickt mit dem Lasso, als Pony-Express-Reiter und beim Bau der Eisenbahn. Als tapferer Soldat im Bürgerkrieg und bei der Belagerung von Fort Alamo, der mehrere Indianersprachen sprach und mehrfach seinen bescheidenen Beitrag dazu leisten konnte, dass der Klappstuhl begraben wurde. Daher erzählte der Trapper mir, was...“
„Chrm, chrm“
Die junge Frau schien selbst am meisten überrascht, dass sie sich so einfach Gehör verschaffen konnte und brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, ehe sie mit zuckersüßer Stimme sagte: „Verzeihung Mr Jebediah, aber da sehe ich mich doch gezwungen, ein paar Anmerkungen zu machen. Erstens heißt es nicht 'Indianer', sondern zum Beispiel 'Native Americans' und wir sollten alle mal darüber nachdenken, dass wir auf gestohlenem Land leben und wie es dazu gekommen ist. Das nur als kleiner Denkanstoß. Dann scheint es mir auch etwas unwahrscheinlich, dass Sie all das gemacht haben, was sie eben sagten und jetzt hier sitzen. Meine Lehrerin Miss Stephens hat nämlich gesagt...“
„Deine Lehrerin hat gesagt...?“. Der Alte kicherte plötzlich. „Schön, dass wenigstens eine von euch noch Interesse an Bildung hat, aber was machst du um diese Uhrzeit in solch einer – Sorry, Barmann - Spelunke?“
„Oh, sagte ich 'meine Lehrerin'? Ich meinte natürlich, dass ich Miss Stephens bin und meinen Schülerinnen und Schülern beibringe...“
„Natürlich. Bringen Sie Ihnen bitte auch bei, dass der Rio Pecos weit westlich vom Ol' Man River liegt, Miss.“
Die eifrige Dolores hatte ihren Fehler eingesehen und verstummte, um noch mehr von der Geschichte des alten Mannes hören zu können. Sie hätte ihm nun gerne einen ausgegeben, aber das war unmöglich. Jebediah nahm einen Schluck und fuhr fort: „Jedenfalls erzählte mir der alte Trapper von der Kutsche und dem Medaillon, dass er gefunden hatte und er wusste nicht mehr, was ihn verletzt hatte und in welchem Grenzgebiet das überhaupt war und – Sorry, ich bräuchte noch einen Drink, als Erinnerungshilfe, irgendjemand?“
Doch der Barmann zeigte auf die Uhr: „Ich brauche meinen Schlaf, aber liebe Kinder, ich bin sicher, wenn ihr wiederkommt, wird Jebediah euch noch die ein oder andere Story erzählen können und wer weiß, vielleicht darf er ja auch mal in Ruhe zu Ende erzählen?“