Geschichte 2
Mein Name ist James Rollins, und ich bin das, was im Allgemeinen als Deserteur bezeichnet wird – doch bitte, urteilen Sie nicht zu schnell. Hören Sie sich erst meine Geschichte an, einverstanden? Danach steht es Ihnen frei, mich mit Feigling, Verräter und allerlei anderen wenig schmeichelhaften Namen zu titulieren. Nun denn, gehen wir also in der Zeit zurück bis zu jenem verregneten Tag im August 1862, als ich im Fort Morricone mit einigen Jungs der Konföderation festsaß…
„Mistwetter“ fluchte der junge Rekrut, während er missmutig durch den regennassen Hof stapfte. „Bei dem ganzen verdammten Regen können die Yankees das halbe Fort auseinandernehmen, bevor es einer merkt!“ Er spuckte aus. Von unserem überdachten Plätzchen aus lächelten mein Gefährte und ich ihm zu, woraufhin er zornige Flüche in unsere Richtung ausstieß. Ich wollte gerade zu einer rüden Antwort ansetzen, als eine schwere Hand auf meiner Schulter landete und mein Gegenüber zum Gespräch ansetzte: „Junge, dein Kompagnon hat absolut Recht. Das Fort ist bei Regen der reinste Präsentierteller – ein Präzisionsschütze könnte uns alle hier draußen jederzeit erschießen.“ Bei diesen Worten wallte Panik in mir auf, und ich glaubte, meinen Ohren nicht trauen zu können. „Seid Ihr verrückt, Sam, das kann doch nicht Euer Ernst sein.“ Der massige Kopf wandte sich überraschend behende zu mir um. „Mein feiner Herr, ich habe vielleicht nicht dieselbe Bildung wie Ihr genossen, aber hier bin ich Euch Meilen voraus. Wenn ich etwas sage, dann stimmt es auch, aber was wollt Ihr dagegen tun? Selbst schuld, wenn Ihr so einen ungünstigen Moment wählt, Euch zur Armee zu melden. Yankees in der Umgebung, Ihr seid ein Frischling bei der Armee, also habt Ihr verdammt noch mal auch mit dem Wachehalten zu rechnen. Seid froh, dass ich noch hiergeblieben bin um Euch zu unterstützen, mein feiner Herr!“ Erstaunt wich ich zurück. Sam hatte ich bisher nur als überlegten Trapper gekannt, und dementsprechend war diese Anfuhr neu für mich. Die braunen Augen blickten mit ungekannter Schärfe, und seine Hände waren zu Fäusten geballt – ein Anzeichen für mich, wie er immer so schön zu sagen pflegte, die gebildete Klappe zu halten. Im nächsten Moment blickte mich der Alte jedoch wieder mild an. „Legt Euch noch etwas aufs Ohr, mein Freund, bevor die verdammten Blauröcke über den Wall klettern.“ Mit dieser Warnung ausgesprochen drehte er sich um und war fast augenblicklich eingeschlafen. Ich jedoch saß noch lange unter der provisorischen Holzüberdachung und schaute meinem „Kompagnon“ beim Patrouillieren zu. Ebenfalls frisch eingezogen standen wir auf derselben Stufe, und waren dementsprechend Leidensgenossen im Regen. Überzeugt, meiner aufkeimenden Wut über die Unfähigkeit des Generals, dem miesen Wetter und so ziemlich jeder Kleinigkeit auf Gottes weiter Welt Luft machen zu müssen, erhob ich mich von meinem unbequemen Lager- als ein einsamer Trompetenstoß über die regennassen Felder hallte, gefolgt vom Krachen Hunderter Gewehr
e. Hinter den hohen Palisaden war ich einigermaßen in Sicherheit, aber ich sah, wie unmittelbar über mir zwei Wachposten schreiend vom Wall fielen und mit einem hässlichen Klatschen auf dem weichen Boden aufschlugen. Ich gebe gern zu, dass ich in jenem Moment trotz meiner groben Selbstüberschätzung vor Angst fast vergangen wäre und am liebsten auf und davon gelaufen, aber nach diesem offenen Angriff wäre eine Flucht ohnehin zum Spießrutenlauf durchs Gewehrfeuer geworden. Die Kasernentür wurde mit lautem Krachen aufgestoßen, und mehrere Soldaten stürmten hervor, bereit, für die Konföderation Ihr Leben zu geben. Sofort kehrte mein Stolz zurück, und ich beschloss, bei der Verteidigung mitzuhelfen, als mich mein Begleiter unsanft zur Seite stieß und auf den Wall eilte. „Bleib, wo du bist.“, brüllte er. „Wenn du dich ins Schussfeld der Blauröcke begibst, bist du ein toter Mann.“ Dann entschwand er meinem Blickfeld. Für einen Moment erwägte ich, ihm zu gehorchen und zu meinem Unterstand zurück zu kriechen. Rund um mich krachten Schüsse, unterbrochen nur von Todesschreien der Verwundeten und dem gelegentlichen schweren Donner im schwarzen Nachthimmel über uns. Und in diesem Moment wusste ich, was zu tun war, liebe Zuhörer, griff also nach meiner alten Muskete und lief, zwei Stufen auf einmal nehmend, auf den Wall hinauf, zu den Verteidigern. Unmittelbar neben mir brüllte irgendein General – ich weiß seinen Namen nicht mehr, Gents – Befehle, die jedoch im lauten Knallen der feindlichen Büchsen untergingen. Hastig blickte ich mich um – und entdeckte doch tatsächlich eine unbenutzte Schießscharte! Nun ja, um ehrlich zu sein befand sich schon jemand dort, aber mit Kugel im Kopf zielt es sich etwas schlecht, nicht wahr? Also schob ich den armen Jungen zur Seite und hockte mich selber hinter die kleine Scharte. Das Gewehr angelegt, den Körper halb hinter dem schützenden Holz versteckt, versuchte ich verzweifelt, einen Gegner auszumachen – als ich erneut herumgedreht wurde und in Sams wütendes Gesicht blickte. „Was denkst du, warum ich dir verbiete, hier raufzukommen!?“, brüllte er, und instinktiv wollte ich das Gewehr fallen lassen und ihn um Vergebung bitten. Doch es kam anders. Denn in jenem schicksalsträchtigen Moment fand eine verirrte Kugel ihren Weg in die Brust meines guten Freundes. Verzweifelt schrie ich auf, versuchte, ihn in Deckung zu ziehen, doch es war zu spät. Mit dumpfem Knall, kaum hörbar in der Hitze des Gefechts, fiel der alte Trapper neben mir auf den Wall. Die braunen Augen blickten leer und ausdruckslos in den Nachthimmel, die großen Hände lagen verkrampft auf der Wunde. Tränen der Wut traten in meine Augen, und auch heute noch kann ich, wenn ich mich an jene Schlacht erinnere, das Gefühl der Trauer nicht überwinden. Wütend erhob ich mich, die Muskete fest in beiden Händen, über die Brüstung hinaus und feuerte in die Feindesmenge hinein. Und dann… entschuldigt bitte, mich hat wohl gerade die Rührung überkommen.
Einige Kugeln zischten knapp an mir vorbei, und heute erscheint es nachgerade ein Wunder, dass ich nicht bei den vielen Gefallenen hinter dem Fort ruhe, aber, sei es wie es sei, mit dem Ende des Regens ließ auch unsere Verzweiflung nach, und allmählich büßten die Feinde ihren Vorteil ein. Dabei sah es gar nicht gut für uns aus, das könnt Ihr mir glauben. Einige von denen waren schon bis auf den Wall vorgedrungen, vereinzelt auch auf die Türme! Aber so ganz ohne Deckung waren sie natürlich wehrlos gegen uns, und es kam wie es kommen musste: das Fort wurde gehalten, Gents!
Fünfzig Minuten dauerte jener Kampf nur, bis die Blauröcke sich unter schweren Verlusten zurückzogen. Von uns Verteidigern hatten viele einen teuren Preis für diesen Sieg bezahlt, doch keiner schien mir höher als mein eigener – der Verlust eines Mentors, eines Gleichgesinnten – eines Freundes.
Nun, da Sie meine Geschichte kennen, frage ich Sie: bin ich ein Feigling? Ich würde sagen, nein. Ich bestreite mein Leben immer noch als ehrlicher Trapper – zumeist wenigstens. Denn, Ladies und Gentleman, in Bälde wird ein Fort in der Umgebung angegriffen, und als ehemaliger Soldat ist es doch meine Pflicht zu helfen, oder?