Man macht es sich eben zu einfach, wenn man Breivik zu einem wahnsinnigen Chaoten erklärt. Klinischer Wahnsinn (oder was du als Psychopathen bezeichnest) wird dem Widersinn, dem so ein Täter unterliegt nicht gerecht.
Natürlich unterliegt Breivik einem offensichtlichen Mangel an Empathie (dem Einfühlungsvermögen in die Gefühle anderer). Wer über mehr als sechzig Minuten durch ein Jugendcamp gehen und einen nach dem anderen töten kann, ist offenbar durch irgendetwas verblendet, das sich durch den normalen Verstand nicht fassen lässt.
Ich persönlich sehe menschliches Leben als das höchste Gut an, das es gibt. Wichtiger als Geld, wichtiger als Ideologie, wichtiger als Freiheit (obwohl die Abwesenheit von Freiheit ja in der Regel dadurch gekennzeichnet ist, dass Menschenrechte verletzt werden, ergo menschliches Leben vernichtet wird, ergo ist die unvermeidbare Tötung von Tyrannen und ihren Unterstützern in Extremfällen legitim, aber das führt zu weit vom Thema weg). Lediglich mein eigenes Leben würde ich für Freiheit und eventuell für Ideologie opfern. Letzteres hat Breivik offenbar genauso gesehen, mit zwei Unterschieden:
1. Freiheit ist nicht das Ziel Breiviks
2. "Lediglich" hat keine Bedeutung für ihn, es ist ausgetauscht in "Unter anderem"
Als jemand, der eben diese Einstellung zu menschlichem Leben hat, ist es für mich völlig unverständlich, wie man offenbar gefühlskalt die wirtschaftlich wertvollste Form des menschlichen Lebens - nämlich Jugendliche - völlig grundlos hinrichten kann.
Bombenexplosionen kann ich ja noch verstehen, hier fehlt der Täter-Opfer-Kontakt. Der Täter stellt den Wagen mit Sprengstoff beladen irgendwohin, aktiviert die Zündung und schaut, dass er rechtzeitig weg ist. Ob er jetzt keinen, fünf oder fünfhundert tötet, weiß er nicht. Je nach Zeitspanne der Zündung kann es sein, dass der Täter noch mit der Bombe hochgeht oder dass der Täter schon lange an Altersschwäche gestorben ist, wenn die Bombe detoniert. Ein Bomber kann schlicht nicht abschätzen, wen er alles in den Tod reißt und wer von der Explosion nur aus den Medien erfährt. Der Täter macht sich die Finger nicht schmutzig, von Sprengstoffresten einmal abgesehen.
Aber ganz anders ist das bei derartigen Amokläufen. Man muss sich nur mal eine Minute lang durch den Kopf gehen lassen, was dort auf der Insel in dreißig bis neunzig Minuten alles geschehen ist und vor allem, was alles auf den Täter gewirkt hat. Dutzende, wenn nicht gar hunderte Kugeln werden verschossen (in Winnenden hatte Tim Kretschner 200 Schuss Munition dabei, ich bezweifle fast, dass auf Utøya weniger als 200 Schuss gefallen sind), auf lebendige Objekte geschossen! Die Jugendlichen haben Zeugenaussagen zur Folge wohl den Täter - persönlich! - angefleht, dass er sie nicht umbringen soll. Wie kann man jemanden umbringen, der dir vor den Füßen rumrutscht? Und vor allem: Wie kann man diesen jemand dann noch derart gefühlskalt beseitigen? Es ist ja wieder ein Unterschied - zumindest aus Sicht des Täters - ob man einer rennenden Person ein Magazin hinterher donnert oder ob man ohnehin schon verletzte, weil angeschossene Personen aus einem Meter Distanz mit Kopfschuss regelrecht hinrichtet!
Dennoch hat Breivik ein - wenn auch offenbar plagiiertes, dennoch aber - so grausam es klingt - nach logischen Gesichtspunkten nachvollziehbares (D.h. ausdrücklich NICHT: Verständliches) Manifest hinterlassen. Ein (wie Vollstrecker ihn bezeichnet) Psychopath ist dazu nicht in der Lage.
Nach dem, was ich kürzlich auf der taz.de gelesen habe, hat dieses Manifest mehr mit Guttenbergs Dissertation gemein als mit einem ordentlichen Manifest (das meintest du wohl mit deiner kleinen Anspielung "plagiiertes"
). Er hat wohl wild aus rechten Blogs kopiert, rechte Zeitschriften zitiert und rechte Standartparolen dazwischen gesetzt.
Dennoch hast du sicherlich recht, das Manifest - das immerhin 1.500 Seiten (!) umfasst, ist nicht so "sinnlos", wie es scheint.
Umso interessanter die Frage, wie man solch einen Täter weiter behandeln will... Im äußerst liberalen Norwegen gehen zZt. die Ansichten zwischen der Wiedereinführung der Todesstrafe für den Fall Breivik und der Anwendung der normalen maximalen Freiheitsstrafe weit auseinander (die maximale Standardfreiheitsstrafe in NOR beträgt 21 Jahre, bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Terrorismus erweiterbar auf 30 Jahre)
Die Frage nach meiner Straffvorstellung habe ich mir auch schon gestellt. Auch für mich scheidet die Todesstraße von vorneherein aus.
Die einzigste Lösung ist aus meiner Sicht - sowohl um Breivik vor Racheakten als auch die anderen Menschen auf der Welt vor ihm zu schützen - eine lebenslange Freiheitsstrafe, natürlich meine ich das in diesem Fall wörtlich.
Ausnahme ist natürlich, dass das Gericht Breivik im Urteil für geisteskrank befinden wird. In diesem Fall muss er halt lebenslang in einer geschlossenen Anstalt verbringen.
In seinem Manifest schreibt Breivik sinngemäß:
95 % der Europäer werden mich hassen!
Ich kann nicht einfach so unterschreiben, dass ich dazugehöre. Ich verabscheue ihn zutiefst, ich könnte ihm niemals für eine derartige Tat vergeben, aber hasse ich ihn? Hass ist die niedrigste Emotion, zu der der menschliche Geist fähig ist. Millionen Menschen musst aus Hass sterben: Holocaust, Winnenden, Kreuzzüge, Dschihad, Leipzig, to be continued. Am letzten Freitag haben sich weitere 76 Menschen dazugesellt. Eben aus diesem Grund finde ich: Wer Breivik hasst, ist nicht besser als Breivik selbst.
Achso, eins noch:
Grade gelesen:
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,777211,00.html
Womit die NPD der Forderung nach ihrem Verbot einen seltsamen Nachdruck verleiht.
Was mich beunruhigt, ist die Reaktion rechter Parteien in ganz Europa auf das Attentat. Die NPD geht natürlich mit gutem Beispiel voran, aber dort folgen ihr sofort fast alle anderen rechtslastigen Vereine. In der taz wurde in einem Kommentar die Theorie aufgestellt, dass Breivik in Wahrheit ein Ziel hatte: Mit seinem Anschlag wollte er die europäischen Rechten vereinen. Wie es aussieht, ist das gelungen. Ein wenig beunruhigt es mich jetzt schon, dass es - vielleicht! - zum lange erwarteten (schließlich war das ja schon in der Weimarer Republik der Fall) Kampf Rechts gegen Links kommen wird.
Wenn die Rechten einmal vereint sind, dann bezweifle ich, dass der linke Flügel der (AP)O sich auch vereinen kann, denn gerade hier gibt es enorme Differenzen. Man denke nur an ein paar LINKE-Mitglieder, die ihrem Antisemitismus zur Folge besser in der DVU aufgehoben wären. Dann beachte man, dass auch die Kommunisten und Marxisten zu eben jenem linken Feld gehören, das Breivik vernichten will. Das selbe linke Feld, zu dem in Deutschland auch die Grünen und Teile der SPD und der LINKEN gehören, ganz abgesehen von den außerparlamentarischen Linken wie beispielsweise der DKP, der MLPD oder der KPD Ost.
Diese vielen Interessen unter einen Hut zu bekommen, scheint unmöglich, aber wenn man das nicht schafft, dann scheint es mir, als würden die Rechten diese Annihilation der Strömungen zu einer Art rechten Deutschen Herbst machen. Ich will hoffen, dass ebendieses Breivik'sche Gedankengut keine Fuß in der rechten Szene fasst. Wir alle wissen:
Der rechte Terror hat bereits begonnen. Jetzt gilt es, dass er schnell aufhört!