Kapitel 1: Ein holpriger Start
Anfangs sah man nur Punkte am Horizont, doch das änderte sich rasch. Mit jeder Minute, mit jedem Schritt, wurden sie größer und stachen immer mehr aus der sonst grauen Welt hervor.
Leider wusste Mike, dass der Schein trügt. Es sollte noch mehrere Stunden dauern, ehe sie es erreichen würden, sein Zuhause. So lange hatte er es nicht mehr gesehen. Er konnte es kaum noch erwarten, es wiederzusehen. Von der Aussicht, noch so lange reiten zu müssen, waren allerdings weder er, noch sein Pferd, besonders begeistert. Beiden sah man die Müdigkeit an, die bereits tief in ihren Knochen steckte. Es gelang Mike kaum noch seine Augen offen zu halten, während der gemütliche Trott ihn in den Schlaf wiegte.
Vielleicht war es doch keine gute Idee, die ganze Nacht durchzureiten. Nicht, dass Mike jetzt noch etwas daran hätte ändern können, aber die Frage stellte sich ihm dennoch. Zu Beginn hatte er zugegebenermaßen auch noch ein gutes Gefühl bei der Sache gehabt. Schließlich würden sie sich die brütend heißen Tagesstunden ersparen, wenn sie jetzt in der kalten Nacht ritten. Die kühlen Brisen halfen anfangs sogar wach zu bleiben, aber nach einer ganzen Nacht im Sattel, bekam man sie kaum noch mit. Stattdessen sehnte Mike sich nach etwas Tageslicht. Womöglich würde die Wärme das Dröhnen in seinem Kopf aufhören lassen.
Allerdings wusste Mike, dass das Unmöglich war. In seinem Leben musste er bereits viele Kater bewältigen. Also kannte er sich da aus. Bei ihm half nur abwarten und kaltes Wasser trinken. Dennoch hätte er seinen Kopf lieber am nächsten Baum zerschlagen, als noch eine Sekunde so weiterzuleben. Schade, dass es hier keine Bäume gab.
Wieso hab ich gestern nur so viel getrunken?, dachte er sich, unvorsichtig wie er war. Da hielt er inne. Bei solchen Sachen musste man stets auf der Hut sein, denn wenn man erst einmal anfing sich Fragen zu stellen, dann konnte man nicht mehr damit aufhören. Fragen wie:
Wieso bin ich am Abend noch losgeritten? oder
Wieso habe ich mir den Blödsinn nicht verkneifen können?.
Genau das hatte Mike damit gemeint, denn schon war es zu spät. Sein schöner Plan, den letzten Abend und dessen Geschehnisse zu verdrängen, ging vor seinen Augen in die Brüche. Wie sich in seinem Gehirn die Fragen überschlugen, kamen immer mehr unterdrückte Gedanken zum Vorschein und damit auch die Scham.
Nun bereute es Mike sogar, dass ihn die nächtliche Kälte wieder nüchtern machte, denn ohne die berauschende Wirkung des Alkohols, kamen ihm seine schlauen Einfälle des Vorabends, plötzlich gar nicht mehr so klug vor. In Wirklichkeit musste er sich sogar eingestehen, dass die meisten purer Blödsinn waren. Besonders diese eine Sache, aber diese Erinnerung würde Mike keinesfalls hochkommen lassen!
„Ah!“, grunzte er, wie sie im nächsten Moment doch hochkam. Alleine durch den Gedanken daran, fühlte sich sein Gesicht an, als würde es jeden Augenblick in Flammen aufgehen. Da das leider nicht passierte, war er jedoch dazu gezwungen, sich die Geschehnisse noch einmal vor seinem inneren Auge anzuschauen.
Seine Taschenuhr hatte bereits kurz nach Mitternacht angezeigt. Von der einst großen Runde, im Dorf der Muskogee, war nur noch der harte Kern übrig geblieben. Der Rest lag zu diesem Zeitpunkt bereits gemütlich in ihren Zelten. Hätte er es ihnen doch nur gleich getan.
Aber nein! Er war ja unbedingt davon überzeugt, noch eine weitere Runde ausschenken zu müssen. Die darauf folgenden Erinnerungen waren etwas verschwommen, weshalb Mike nicht genau wusste, ob er es nun während des Einschenkens oder etwas danach gemacht hatte. Egal wann, es kam der Moment, als eine seiner weiblichen Bekanntschaften an ihm vorbei spazierte. Auch hier fehlte wieder ein kleines Detail. Mike konnte beim besten Willen nicht sagen, welche Freundin da neben ihm vorbeigegangen war. Im Endeffekt machte es jedoch keinen großen Unterschied.
Wie bei vielen Männern verlieh der Alkohol auch Mike einen Mut oder besser gesagt Übermut, den er ansonsten niemals an den Tag gelegt hätte. Sein betrunkenes Gehirn war auf einmal felsenfest davon überzeugt, dass sie es als Kompliment verstehen würde, den kleinen Klaps. In Wirklichkeit sah die Sache dann etwas anders aus. Daran erinnerte ihn seine noch immer schmerzende Wange.
Wie er nun darüber nachdachte, machte es ihm doch etwas aus, dass er nicht wusste, bei welcher Frau er zugelangt hatte. Schließlich konnte er sich ab jetzt nicht mehr bei der Betroffenen blicken lassen. Warum nur konnte er sich, zu dem Zeitpunkt, auf keine andere Körperregion konzentrieren, wie sagen wir einmal das Gesicht?
"Dieser verfluchte Alkohol.", murmelte Mike vor sich hin. Bei dem gestrige Abend handelte es sich mit Sicherheit um seinen bisher schlimmsten Absturz und das trotz seines jahrelangen „Trainings“. Die ganzen Abende, an denen sich Mike diverse Gesöffe gegönnt hatte, schienen nutzlos gewesen zu sein. Dabei war der Preis hoch genug. In der Zwischenzeit konnte er nicht einmal einschlafen, wenn er keinen guten Tropfen dabei hatte. Mike wusste, dass es so nicht mehr weiter gehen konnte. Er hatte es satt, dass der Alkohol ihn derart kontrollierte.
Deshalb freute er sich auch, dass sie dem Außenposten immer näher kamen. Dort würde er, nach Monaten des exzessiven Trinkens, endlich auf dem Trockenen liegen. Eine Vorstellung, die ihn mit Hoffnung, aber auch Angst erfüllte. Doch es gab keinen anderen Weg. Nur auf diese Art und Weise bestand für ihn die Chance, endlich damit aufzuhören, denn genug Versuche hatten ihm bereits bewiesen, dass er alleine nicht die nötige Kraft besaß, um damit aufzuhören.
Alles hätte so perfekt sein können. Er würde in die Geschichte eingehen, als der Mann, der die Machenschaften des Untergrundbosses Calvin Hardin gestoppt hatte. Nun konnte er endlich, nach diesem Abenteuer seines Lebens, Nachhause zurückkehren, bereit seine Sucht zu besiegen und die Früchte seiner harten Arbeit zu genießen. Aber das war ihm anscheinend noch nicht genug. Er musste ja wie immer den Guten spielen und gute Typen sahen nun mal ein, wenn sie das Leben eines anderen Menschen zerstört hatten. Sie setzten dann alles daran, ihren Fehler wiedergutzumachen, auch wenn das hieß, dem früheren Erzfeind Unterschlupf zu gewähren. Das klang für Mike in der Theorie durchaus einleuchtend. In Wirklichkeit sah es jedoch anders aus.
"Hm. Ich will mich ja nicht beschweren, aber der Außenposten schaut nicht gerade imposant aus. Ziemlicher Abstieg von einer Villa.“, hörte er Calvin neben sich schnattern.
„...“
Gerne hätte Mike etwas geantwortet, aber er wusste es besser. Seine Stimme war in diesem Zustand viel zu laut für ihn. Wenn schon Calvin herumschrie, musste er sich nicht auch selbst, mit der eigenen Stimme, malträtieren.
„Scheinst nicht besonders gesprächig zu sein.“
„...“
„Ach, komm schon. Lass mich doch nicht so auflaufen. Ich führe hier ja schon Selbstgespräche.“
„...“
„Na gut, wenn du nicht willst. Ich sehe, dass unser Zusammenleben, richtig unterhaltsam werden wird.“